Tränen der Lilie - Hüter der Gezeiten (Bianca Balcaen: Geisterkrieger-Serie) (German Edition)
schlich
sie
haltesuchend den fünf Meter langen Korridors entlang, bis sie
die Glastür zum
Treppenhaus erreicht hatte.
Schon seit zwei
Tagen hatte sie
sich ihre Strategie ausgearbeitet. Darum nahm sie auch
absichtlich nicht den
Aufzug, denn die Gefahr dort entdeckt zu werden, war viel zu
groß. Die Tür
knackte ins Schloss und Amy starrte entgeistert auf die
unzähligen
Treppenstufen.
Doch schließlich
siegte ihre
Abenteuerlust. Fest umklammerte sie das Geländer, bis ihre
Handknöchel weiß
hervortraten, setzte dabei zaghaft den linken Fuß auf den ersten
Absatz und zog
dann bedächtig das zweite Bein nach. Stufe für Stufe kämpfte sie
sich vor. Als
sie endlich das zweite Stockwerk erreicht hatte, blieb sie
stöhnend stehen und
ihr Atem ging stoßweise. Sie spürte wie ihr der Schweiß
aus allen Poren
ausbrach und im Rücken in einem dünnen Rinnsal wieder
hinunterlief.
Oh nein, so kurz
vor dem Ziel
nicht schlappmachen, flüsterte sie sich selber Mut zu. Es war
ihr von Anfang an
klargewesen, dass ihr Kreislauf nach so langem Liegen
rebellieren würde. Wie
durch eine Nebelwand sah sie die Stufen vor sich verschwimmen
und schwarze
Punkte begannen vor ihren Augen zu tanzen. Das Zeichen einer
drohenden
Ohnmacht.
Verzweifelt
schloss sie die Augen
und konzentrierte sich darauf, tief ein und aus zu atmen.
Langsam griff sie
in die Tasche
ihres Morgenmantels, zog ein Stück Traubenzucker heraus und
schob es in den
Mund.
Nach einigen
Minuten flaute die
die Übelkeit ein wenig ab. Neuen Mutes blickte sie auf die
restlichen fünfzig
Stufen und holte noch einmal tief Luft.
Achtundvierzig…
neunundvierzig…
fünfzig….
Mein Gott, ich
habe es
tatsächlich geschafft, flüsterte sie andächtig. Halleluja.
Genauso musste sich
Edmund Hillary bei seinem Aufstieg zum Mount Everest gefühlt
haben, davon war
sie fest überzeugt.
Ihr Schnaufen
ähnelte jetzt stark
dem eines Arbeitspferdes beim Pflügen eines trockenen
Ackerlandes. Aber sie
strahlte mit neugewonnenen Selbstvertrauen über das ganze
Gesicht. Schleppend
schlurfte sie die letzten Meter weiter und blieb vor der Tür
Nr.34 stehen.
****
Nachdem sie auf
ihr zaghaftes
Anklopfen keine Antwort bekam, drückte sie leise die Klinke
runter. Ihr Blick
glitt zu dem einzigen Bett in dem Krankenzimmer. Darin lag eine
kleine und
zierliche Person mit einem unendlich traurigen Gesichtsausdruck,
die sich jetzt
ruckartig aus den Kissen erhob und erschrocken auf die geöffnete
Tür starrte.
Als sie Amy erkannte, begann sie zu strahlen und winkte sie ins
Krankenzimmer.
Amy kicherte verschwörerisch, betrat das Zimmer und setzte sich
stöhnend auf die
Bettkante.
»Meine Süße, wie
geht es dir ?« , fragte sie
teilnahmsvoll.
Rebecca umarmte
sie fest und
wollte sie scheinbar gar nicht mehr loslassen.
»Ich bin so froh,
dass du hier
bist«, endlich hob sie den Kopf und Amy betrachtete dabei ihr
bleiches Gesicht.
Rebecca hatte sich
in den drei
Wochen, nach Tohopka Atcittys grauenvoller Angriff auf sie,
erschreckend
verändert. Vom vormals leicht pummligen sechzehnjährigen
Teenager war nichts
mehr übergeblieben.
Im Bett lag nun
ein stark abgemagertes
Mädchen mit eingefallenen Gesichtszügen und gravierenden
Angst-Attacken.
»Wie bist du hier
hochgekommen,
ohne Aufpasser und Krankenschwester ?« ,
fragte Rebecca
erstaunt.
Amy lachte
verschmitzt und begann
zu berichten.
»Ich war bis vor
kurzem noch auf
der Intensivstation und nur die engsten Angehörigen durften mich
dort besuchen.
Jetzt bin ich seit ein paar Tagen auf der normalen Station und
langweile mich
zu Tode. Mein Vater und Michael sind besser als jeder Bluthund.
Sie bewachen
mich rund um die Uhr und die Krankenschwestern haben Anordnung,
mich ja nicht
alleine aufstehen zu lassen. Ich hätte fragen können, ob ich
dich besuchen
darf. Aber dann hätten sie mich wieder in den Rollstuhl gestopft
und eine
Leibgarde mitgeschickt .«
Amy strich Rebecca
liebevoll
übers Haar.
»Ich hatte Lust
dich zu besuchen
und gleichzeitig meine Grenzen auszutesten .« Amy
leicht auf.
»Ich kann dir
mitteilen, dass
sich so wohl meine Großmutter gefühlt haben musste, als sie
ihren neunzigsten
Geburtstag feierte .«
Ein Lächeln
huschte über Rebeccas
Gesicht, als Amy ihr erzählte, das
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