Tränen der Lilie - Seelen aus Eis (Bianca Balcaen: Geisterkrieger-Serie) (German Edition)
Herz klopfte immer
noch stakkato artig.
Verzweifelt
wischte sie sich mit der Hand die verschwitzten Haare aus dem
Gesicht, nahm sie ihr Kissen und stopfte es sich in den Rücken.
Amy wusste, dass
sie nach diesem Alptraum nicht mehr weiterschlafen konnte. Müde
blickte sie aus dem Fenster in die rabenschwarze Nacht hinaus.
Schon seit
mehreren Nächten erschien ihr diese immer wiederkehrende und
nicht zu deutende Vision. Von dem Augenblick an, als Michael aus
unerfindlichen Gründen auf Abstand zu ihr gegangen war, träumte
sie auch wieder von seinen eisblauen Augen. Er fehlte ihr so
sehr und diese neuen, dämonischen Träume verstärkten ihre Angst
um sein Leben noch mehr.
»Komm wieder zu
mir zurück…«, flüsterte sie.
****
Am nächsten Morgen
hatte sich die Welt in ein Wintermärchen verwandelt. Binnen
weniger Stunden waren die zarten, wirbelnden Flocken in ein
Schneegestöber übergegangen und der nächtliche Frost hatte die
kahlen Bäume mit einem silberweißen Netz aus Reif eingesponnen.
Es klopfte an der Tür und wie immer ging Thomas hin um zu sehen,
wer rein wollte.
»Guten Morgen
Professor.«
Ben lachte ihn
fröhlich an und rubbelte dabei die kalten Hände aneinander.
»Ich habe Rebecca
und Robert mitgebracht. Sind die Mädchen da?«
»Ja, wir sind
hier, kommt rein«, trompetete Rachel fröhlich aus der Küche.
Alle lachten und schoben sich in den warmen Flur. Keinem von
ihnen war aufgefallen, dass Thomas ihre Heiterkeit nicht zu
teilen schien. Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich
verzogen. Schnuppernd hob Robert den Kopf.
»Mmmh, ich rieche
gebratenen Speck und Spiegeleier. Ich wusste doch, dass ihr mit
dem Sonntagsbrunch auf uns gewartet habt.« Er kam in die Küche,
küsste Amy auf die Wange und setzte sich neben sie auf den
freien Stuhl.
»Wie geht es
meinem Mädchen?«
Doch dann bereute
er seine flapsigen Worte sofort. Er sah sie stirnrunzelnd
an und hob mit den Fingern ihr Kinn an.
»Hast du immer
noch Schmerzen? Du siehst grauenvoll aus mit diesen
Augenringen.«
»Danke Rob, du
verstehst es wirklich wie kein anderer, einem Mädchen
Komplimente zu machen.« Spielerisch boxte sie ihm in die Rippen.
»Mach dir keine
Sorgen, mir geht es gesundheitlich jeden Tag besser. Ich habe
nur schlecht geschlafen, das ist alles.«
»Bist du dir
sicher«, murmelte er, »und wo ist eigentlich dein Wachhund?
Normalerweise erwartet er mich doch immer schon mit gefletschten
Zähnen.« Kichernd sah er sich gespielt suchend im Raum um.
Ben blickte auf
und sah wie Amys Gesicht bei dieser Frage blass wurde.
Beschützend griff er ein.
»Robert, du bist
wie immer ein hohler Schwachkopf. Lass diese Fragen gefälligst.
Michael hat im Moment sehr viel zu tun. Seit Wochen herrscht im
Reservat eine Grippewelle und mein Bruder arbeitet jeden Tag bis
an den Rand seiner Kräfte. Die Hope-Klinik platzt aus allen
Nähten.«
Rachel hatte
gelangweilt zugehört und klopfte nun lautstark auf den Tisch.
»Hört auf euch zu
streiten Jungs, sonst wird das Essen kalt. Setzt euch endlich
hin.«
****
Am späten
Nachmittag beschlossen alle im Garten einen Schneemann zu bauen.
Der mittlerweile meterhohe Schnee knirschte unter ihren Stiefel
und glitzerte in der Sonne wie Millionen Kristalle aus
Diamantenstaub. Ausgelassen suchten sie im Schuppen nach zwei
Kohlestücken und einer Möhre.
»Was nehmen wir
für den Mund?«, rief Rachel fragend.
»Wir könnten die
Pfeife von Emilys Vater nehmen.« Robert bog sich beinahe vor
Lachen und Emily streckte ihm die Zunge aus.
»Das wirst du
nicht wagen, untersteh…«, weiter kam sie nicht, von der linken
Seite flog ein Schneeball genau in ihr Gesicht. Es wurde ein
ausgelassenes und übermütiges Battle, an dem am Ende sogar der
beträchtlich schief stehende Schneemann stand. Statt der Pfeife
schmückte seinen Mund jetzt Rachels rosafarbener Lippenstift.
Sie standen alle zusammen und begutachteten zufrieden ihr
gemeinsames Kunstwerk. Aus den Augenwinkeln bemerkte Amy, dass
Ben immer wieder zu Rebecca hinüber schaute und jede ihrer
Bewegungen stumm verfolgte. Amy war eine sehr gute Beobachterin
und es war ihr den ganzen Nachmittag lang nicht entgangen, dass
Rebecca manchmal schüchtern seinen Augenkontakt erwiderte.
Auch Robert schien
zum ersten Mal aus seiner sonst so trübsinnigen Stimmung
herausgekommen zu sein.
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