Tränen des Mondes
davon überzeugt, daß Gilbert hinter seinen eindringlich starrenden Augen alles aufnahm, was rings um ihn geschah.
Sie bearbeiteten seine verkümmerten Muskeln und setzten ihn in einem Rollstuhl nach draußen in die Sonne. Er konnte schlucken, also bekam er etwas nahrhafteres Essen. Olivia sah sich nun in der Lage, ihre Wache am Bett des Kranken zu unterbrechen und zum
Shaw House
zu gehen, wo sie Verwaltungsangelegenheiten und persönliche Dinge zu regeln hatte.
Die schwerste Aufgabe war es, Tyndall einen Brief zu schreiben.
Mein liebster John,
noch nie ist mir ein Brief so schwergefallen wie dieser … wir haben alle einen grausamen Schlag erlitten. Ich begreife nicht, wie es zugeht, daß mir das Glück immer, wenn ich es schon fast mit Händen greifen kann, wieder entrissen wird. Ich frage mich, ob ich auf diese Weise gestraft werden soll …
Gilbert hatte einen Schlaganfall und ist völlig gelähmt. Er braucht mich, und obwohl er nur dahinzuvegetieren scheint, weiß ich, daß er innerlich alles wahrnimmt. Ich kann mich jetzt nicht von ihm abwenden. Selbst wenn ich wüßte, daß er nicht bei Bewußtsein ist, könnte ich ihn nicht verlassen. Auch wenn ich das fertigbrächte, glaube ich, daß unsere Schuldgefühle unsere Liebe zerstören würden. Du hast jetzt Maya und unsere süße gemeinsame Enkelin, es tröstet mich, daß Du nicht allein bist. Ich sehne mich nach Deinen Armen, Deinen Lippen, Deinem Lachen, und Du weißt, daß Du die Liebe und das Licht meines Lebens bist. Aber ich habe Gilbert gegenüber eine moralische Verpflichtung, und Du würdest sicher nicht von mir verlangen, mich dieser Verpflichtung zu entziehen. Vielleicht werden wir eines Tages noch zusammenfinden. Aber nicht jetzt oder in absehbarer Zukunft.
Für immer
Deine Olivia
Wochen vergingen. Gilberts Zustand stabilisierte sich soweit, daß Olivia zu überlegen begann, ob sie ihn nicht nach Hause holen könnte. Tyndall schickte einen kurzen, todtraurigen Brief:
… Ich wollte die Sterne vom Himmel herunterreißen, ich habe geweint über diese große Ungerechtigkeit, aber wenn auch mein Herz darüber zerbricht und ich auch unendliche Sehnsucht nach Dir habe, erkenne ich Deine Zwangslage und respektiere Deine Entscheidung. Das ist vermutlich einer der Gründe, warum ich Dich so liebe – Du bist gut, ehrlich und treu, mein Liebling. Meine Liebe wird nie wanken, und ich werde immer für Dich dasein. Wenn Du mich brauchst, mein Liebes, komme ich sofort zu Dir, das weißt Du seit eh und je …
Maya bot an, zurückzukommen und ihr bei Gilberts Pflege zu helfen, doch Olivia antwortete, sie fände es besser, wenn Maya Tyndall im Perlenunternehmen zur Hand ginge. Toby und Mabel schickten ebenfalls einen freundlichen Brief.
Nach Gesprächen mit den Ärzten gelangte Olivia schließlich zu einer Entscheidung. Sie würde Gilbert selbst pflegen und die Hoffnung nicht aufgeben, daß er irgendwann wieder zu sich käme.
Ihre Lebensumstellung war ein langwieriges Unterfangen, doch Olivia bewältigte langsam einen notwendigen Schritt nach dem anderen. Sie konnte das
Shaw House
nicht alleine weiterführen, denn Gilbert war die treibende Kraft gewesen, auch wenn seine Kollegen sich mit ihm im medizinischen Dienst ablösten. Olivia wandte sich an den Krankenhausvorstand und brachte überzeugend ihr Anliegen vor, das
Shaw House
solle doch vom Krankenhaus in Schirmherrschaft als zweites Haus übernommen werden. Die Kirche und etliche Politiker stellten sich hinter das Vorhaben. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter würden weiter zur Verfügung stehen, das
Shaw House
war dank kluger Investitionen des ursprünglichen Stiftungsvermögens finanziell abgesichert. Nachdem die Zeitungen über die tragische Erkrankung Dr. Shaws und die Entschlossenheit seiner Frau, sein Werk zu retten, berichtet hatten, flossen sogar weitere Spenden und sicherten die Zukunft des Hauses.
Olivia verkaufte ihr Haus in Fremantle und auch Gilberts Haus. Mit den Einnahmen erwarb sie ein großes, eingeschossiges Haus auf einem Hügel außerhalb von Perth, das von einem mehrere Morgen großen, ungepflegten Garten, einer riesigen offenen Landfläche und einigen Bäumen umgeben war. Es hatte eine wunderschöne Aussicht auf die Stadt und den Fluß, die, wie Olivia dachte, Gilbert sicher gefallen würde. Sie blieb davon überzeugt, daß er, leblos, wie er auch wirken mochte, sehen, empfinden und denken konnte.
Nach Wochen der Aktivität begrüßte sie die friedliche Stille, die sich nach
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