Tränen des Mondes
ins Schwarze getroffen, muß ich zugeben«, begann Tyndall. »Dabei fühle ich mich noch gar nicht anders … du vielleicht?«
»Älter, meinst du? Nein. Manchmal bin ich überrascht, wenn ich in den Spiegel schaue und mir diese ›Frau in einem gewissen Alter‹ entgegenblickt. Dann frage ich mich, wo die junge Olivia geblieben ist.«
»Sie ist nirgendwohin verschwunden. Sie ist hier, an Ort und Stelle.« Tyndall umarmte sie noch fester. »Ich sehe dich immer noch in dieser verrückten Segelkluft, eine vom Wind zerzauste junge Frau mit frischem Gesicht.«
Olivia lächelte in der Dunkelheit und schmiegte sich eng an ihn. »Aber die Tatsache läßt sich nicht leugnen, mein Liebling: Wir sind nicht mehr so jung, wie wir einmal waren, und die Seefahrt und die ganze körperliche Anstrengung, die mit der Perlenfischerei verbunden ist, verlangen ihren Preis.«
»Olivia … ich bin immer noch fit und immer noch ein Perlenunternehmer. Ich habe nicht vor, auf der Veranda im Schaukelstuhl zu versauern.«
»Das weiß ich, John. Aber Claude hat auf die schlechte Wirtschaftslage aufmerksam gemacht. Und diese Kriegsgerüchte sind sehr beunruhigend. Das wird das Perlmuttgeschäft Kopf und Kragen kosten.«
»Aber die Meinung des jungen Barat, der Krieg könnte auch uns erreichen, scheint mir doch etwas weit hergeholt. Ich glaube nicht, daß Hitler ein Auge auf den Nordwesten Australiens geworfen hat, aber wahrscheinlich sind die Barats gut beraten, wenn sie ihren Geschäftssitz nach New York verlegen. Mach dir keine Sorgen, wir setzen die Perlenfischerei so lange fort, wie wir dazu in der Lage sind.«
Tyndalls Einschätzung der Ereignisse wurde innerhalb weniger Monate widerlegt, in dieser Zeit verfolgten alle mit wachsender Anspannung, wie sich die Lage in Europa zuspitzte.
Maya war es, die eines Morgens ihren Tee stehen ließ und zu Tyndall und Olivia rannte. Sie klopfte heftig an ihre Schlafzimmertür. »Wir haben Krieg! Die Nachricht kam gerade im Radio. Weil Großbritannien im Krieg gegen Deutschland ist … hat etwas mit Polen zu tun. Lieber Gott …« Maya ging hinein und setzte sich auf die Bettkante, sie hatte Tränen in den Augen.
Olivia nahm ihre Hand. »Das kommt mir einfach unglaublich vor … zwei Kriege in einem Menschenleben. Wann werden sie endlich begreifen? Wenn ich an Hamish denke und die vielen tapferen jungen Männer, die gefallen sind …« Die beiden Frauen saßen eine Weile stumm da, dann brach Tyndall das Schweigen.
»Ich gehe mich mal lieber erkundigen, ob dem Friedensrichter genauere Einzelheiten bekannt sind.«
Später an diesem Vormittag versammelten sich die Bewohner von Broome überall in der Stadt in kleinen Grüppchen, um über die Nachricht zu diskutieren. Der Friedensrichter schickte seinen Gehilfen mit dem Fahrrad zu den Häusern und Büros der einflußreichsten Bürger der Stadt, um sie zu einem Treffen in seinem Amtssitz zusammenzurufen.
Tyndall, der oberste Zollbeamte, der Fischereiinspektor, der neue Polizeichef, der Bischof, der Arzt, der Postdirektor, zwei weitere Perlenunternehmer und mehrere weitere führende Persönlichkeiten versammelten sich im Vorgarten des Amtssitzes, wo ein malaiischer Boy kühle Getränke reichte. Die Männer unterhielten sich leise miteinander, sie mußten die neuesten Nachrichten, die sie über einen Kurzwellensender aus London empfangen hatten, erst verdauen. Die Gruppe verstummte, als der Friedensrichter erschien und sich mit einem Räuspern neben die Fahne stellte.
»Meine Herren. Es ist meine traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen, daß ich von der Regierung die offizielle Mitteilung erhalten habe, Australien befinde sich ab sofort im Kriegszustand. Als Bürger des Britischen Empire ist es unsere Pflicht, unserem Mutterland beizustehen. Ich weiß, daß ich mit Ihrer vollen Unterstützung bei allen Maßnahmen rechnen kann, die in den dunklen Tagen, die vor uns liegen, zur Verteidigung des Empire notwendig sein werden. Ich bin sicher, ich kann unserem Premierminister Mr. Menzies telegrafieren, daß wir alle hinter der Regierung und dem König stehen.«
Die kurze Ansprache wurde mit einem lebhaften »Sehr richtig!« und einem dreifachen »Hoch!« aufgenommen, dann folgten alle dem Beispiel des Bischofs und sangen. Zum Schluß brach allerseits voller Begeisterung der Ruf aus: »Gott schütze den König!«
Einige malaiische und japanische Seeleute, die gerade vorbeigingen, warfen verstohlene Blicke auf die kleine Versammlung rund um die
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