Tränen des Mondes
das tiefblaue Wasser schnitt. Olivia stand am Hauptmast und sog die frische Seeluft tief in ihre Lungen. Sobald sie den Kanal hinter sich gelassen und die Bucht erreicht hatten, war sie unter Deck verschwunden und in ihren ›Segelanzug‹ geschlüpft. Sie hatte sich des unpraktischen langen Rocks und der unbequemen steifen Bluse entledigt und eine lose schwarze Hose mit einem weiten weißen Hemd übergestreift, das locker über der Hose hing. Den Anzug hatte sie ihrem chinesischen Koch abgeguckt, er war luftig, bequem und praktisch. An den Füßen trug sie einfache Slipper aus Segeltuch.
Tyndall ließ sich seinen ersten Schock nicht anmerken. »Sehr vernünftige Kleidung«, bemerkte er mit hochgezogenen Augenbrauen.
Ahmed schwieg und zeigte keine Reaktion, doch Olivia vermeinte, ein leicht amüsiertes Blitzen in seinen dunklen Augen zu erkennen.
Der Logger glitt ruhig über die leichte Dünung und legte sich nach Backbord, als die Segel auf Südwestkurs getrimmt wurden. Der Wind blies genau ihren Kurs. Olivia schloß die Augen und gab sich ihren Gefühlen hin. Sie spürte den Wind, die schaukelnden Bewegungen der
Bulan
, das Schwanken der Takelage, hörte das Knarren des Tauwerks und das Singen des Winds in den Masten. Gelegentlich flatterte ein Segel, Wasser klatschte und spritzte auf, wenn der Bug durch eine hohe Welle schnitt. Die Luft roch herrlich frisch, und wenn Olivia sich die Lippen leckte, blieb ihr der salzige Geschmack des Meeres auf der Zunge haften.
Ihre Lebensgeister erwachten wieder und weckten geradezu euphorische Gefühle in ihr. Zum ersten Mal seit James' Tod fühlte sie sich richtig gelöst. Die Mannschaft spürte, daß sie allein sein wollte, und ließ sie lange Zeit ungestört.
Irgendwann erwachte Olivia aus ihren Träumereien. Sie blickte sich um und sah Ahmed am Ruder stehen, der seinen Blick abwechselnd auf den Kompaß oder die Segel gerichtet hielt. Tyndall war noch immer damit beschäftigt, Taue zu spleißen, und die Kupanger flickten Jutesäcke. Es wirkte alles so geordnet und beruhigend, und so lächelte sie Tyndall zu, der sie mit einem Griff an die Mütze grüßte. Vorsichtig über das Deck wankend, ging sie zu ihm, lehnte sich wortlos mit dem Rücken an die Bordplanken und schaute ihm beim Spleißen der Taue zu.
Sie gingen für die Nacht vor Anker, und im Licht des Mondes und dem Schein einer Schiffslaterne bereitete Ahmed ihnen ein Mahl aus Reis, Fisch und Gemüse mit einer würzigen Soße. Während sie an Deck saß und von dem einfachen Blechgeschirr aß, während sie dem Klatschen der Wellen am Rumpf lauschte und die hellen Sterne über sich sah, fand Olivia, daß dies das köstlichste Mahl seit langem war. Die Seeluft hatte sie müde gemacht, und so schlüpfte sie bald in ihre Kabine, öffnete das Bullauge und fiel sofort in einen tiefen, gesunden Schlaf. Ahmed und Tyndall lagen an Deck in ihren Hängematten und plauderten leise auf malaiisch und englisch.
Erst nach zwei Tagen auf See sprach Olivia ihr Anliegen aus und bat Tyndall, kurz in Cossack anzulegen, damit sie das Grab ihres Babys besuchen konnte. Tyndall war sofort einverstanden.
Olivia betrat den einsamen kleinen Friedhof, wo ihr Sohn vor einer Ewigkeit, wie ihr nun schien, in aller Form begraben worden war. Das kurze Zwischenspiel in Cossack barg für sie nur traurige Erinnerungen, und sie dankte noch einmal dem Himmel, der ihr John Tyndall geschickt hatte. Broome und der Perlenhandel hatten ihr über den Verlust ihres Sohnes hinweggeholfen, aber sie brauchte diese kurze Andacht an seinem Grab, mußte ihm mit dieser kleinen Geste zeigen, daß er nicht vergessen war.
Tyndall trat einen Schritt zurück, während Olivia vor dem kleinen Grabhügel auf die Knie ging und am Fuß des kleinen Grabsteins einen Wildblumenstrauß ablegte. Bei dem Gedanken an all die vielen Dinge, die sie nie mit James würde tun oder teilen können, kamen ihr die Tränen. Sie verharrte eine Weile im stillen Gebet, streichelte versonnen den kleinen Grabhügel und hauchte zum Abschied einen Kuß auf den Grabstein. Tyndall half ihr auf und nahm ihren Arm. Schweigend gingen sie zur Straße zurück, wo das gemietete Sulky auf sie wartete.
Die restliche Fahrt verbrachte Olivia meist zurückgezogen im Schatten der Segel, von wo sie mit leerem Blick auf das Meer und die vorbeiziehende Küste starrte. Ahmed brachte ihr von Zeit zu Zeit wortlos etwas zu essen und zu trinken, und erntete meist nur ein kurzes Nicken oder die Andeutung eines
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