Traenenengel
abgesucht. Da hockt niemand, Frau Panier.
A: Ein wildes Tier lässt sich nicht so einfach einfangen. Sie vertrauen Ihren Leuten, ich vertraue meinem Instinkt. Und der
sagt, dass es noch nicht vorbei ist.
F: Das Taschenmesser, von dem Sie eben sprachen. Haben Sie es dabei?
A: Ja, müsste ich eigentlich.
F: Dürfte ich mal einen Blick darauf werfen?
A: Wieso? Sie denken doch wohl nicht etwa ...
F: Routine.
A: Ich weiß zwar nicht, was das jetzt soll, aber bitte, wenn Sie es unbedingt wollen. Einen Moment. Ich habe es immer in dieser
Jackentasche ... Es muss ganz weit unten ... Seltsam ... Vielleicht ist es ja in der anderen ... Das verstehe ich nicht. Es muss doch irgendwo in dieser Jacke sein. Oder habe ich es doch herausgenommen? Aber wozu?
F: Kein Messer?
A: Das ist mir furchtbar peinlich, Herr Masaryk. Ich habe das Taschenmesser sonst immer in dieser Jackentasche. Aber da ist
es nicht.
F: Erinnern Sie sich daran, wann Sie das Messer zum letzten Mal benutzt haben?
A: Ich benutze es eigentlich kaum. Das ist sicher schon Monate her.
F: Melden Sie sich doch bitte, wenn das Messer wieder auftaucht. Und sagen Sie auch Bescheid, falls Sie es nicht mehr finden
sollten.
A: Ja, selbstverständlich. Es ist mir wirklich ein Rätsel.
F: Vielen Dank, Frau Panier, dass Sie sich Zeit genommen haben. Sollten noch Fragen auftauchen, melden wir uns bei Ihnen.
***
Sie wollen, dass sie ins Kino geht.
Auf andere Gedanken kommt
. Mit ihm oder ihr, nur nicht allein. Im Schutz der Dunkelheit ans Licht der Öffentlichkeit.
Der Weg gesäumt von Tuscheln und Blicken. Sie reden viel. Über sie.
Die Stadt ist träge, sie lastet schwer auf ihr. Dächer biegen sich, Straßen werden eng. Sie ist der Makel unter ihnen, auf
einfallsloser Reinheit. Unsichtbare Finger zeigen auf sie, flüchtig und feige, keiner berührt sie, wagt es.
Als könnte ich sie anstecken.
Blicke triefen vor Mitleid und Wiedersehensfreude. Erbärmliche Schauspieler. Nur eins ist echt:
Angst . Angst . Angst
. Ein gewaltiger, schwarzer Felsen. Was er nicht unter sich begräbt, dem stellt er sich in den Weg.
Sie ist froh, als im Kino das Licht ausgeht. Sie hätte nicht gedacht, dass sie die Dunkelheit einmal schützen würde. Sie sitzt
neben ihm. Schulter an Schulter, Herz an Herz, Atem an Atem. Für den Moment völlig neben sich.
Alles wie früher. Alles wie vorher. Alles so gut.
Nichts ist gut.
Die Geräusche viel zu laut. Die Leinwand viel zu hell. Er viel zu weit weg.
Der Film fängt an und läuft schon viel zu lange. An ihr vorbei.
Schnelldurchlauf . Stromausfall . Aus .
Sie will aufstehen. Gehen. An einen anderen Ort. In ein anderes Leben.
Er hält sie zurück. Der Blick starr geradeaus. Noch nicht einmal ein Streifen. Seine Hand in ihrer. Glatt.Lauwarm. Sein Daumen streicht über ihren Handrücken.
Auf.
Ab.
Auf.
Ab.
Me cha nisch.
Sie erkennt ihn nicht.
Er erkennt sie nicht.
Es ist so dunkel.
***
»War das eben Flora?« Trixis Mutter reichte ihrem Mann einen Teller mit Käse.
Trixi nickte. Sie ließ das Telefon auf dem Fensterbrett liegen, setzte sich zurück an den Abendbrottisch und klemmte den rechten
Fuß unter den linken Oberschenkel.
»Wie geht es ihr?« Trixis Mutter hielt sich die Teetasse an den Mund, trank aber nicht. Durch den feinen, heißen Nebel, der
vom Tee aufstieg, betrachtete sie ihre Tochter aufmerksam. Ihr Mund formte einen strengen Strich.
Trixi sah auf den leeren Teller vor sich. Sie fuhr sich abwesend über ihr Ohr. Es war noch warm vom Telefonat. »Geht so. Sie
war gerade im Kino.«
»Klingt nach Besserung«, meinte Trixis Vater und kaute dabei an einem Brotkanten.
Trixi schüttelte den Kopf. Der Pony fiel kurz über ihre Augen. »Würde man meinen. Klang aber grad gar nicht so.«
»War sie in dem Film mit den Erdmännchen?«, fragte Lasse, wobei die Gurkenscheibe, die er sich gerade in den Mund gesteckt
hatte, wieder auf den Tisch fiel.
Trixi verzog den Mund und sah kurz zu ihrem kleinen Bruder. »Na klar.«
»War sie mit Andro im Kino?« Frau Jerger nahm vorsichtig einen Schluck vom heißen Tee.
Trixi nickte. Sie überflog die Wurst, den Käse, das Brot und das Gemüse auf dem Tisch. Normalerweise fiel sie nach dem Training
immer wie eine Termite über das Essen her. Heute hatte sie keinen Hunger.
»Andro ist Floras Lebensabschnittssexualpartner«, wusste Lasse.
»Bei uns hieß das noch Schatz«, sagte Frau Jerger.
»Oder Ische und Stecher«, fügte Herr Jerger
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