Traenenengel
lauschte. Mehrere Sekunden lang war nur ein gleichmäßiges Knistern zu hören.
Zweimal knackte es kurz in der Leitung. »Hallo? Ist da wer?«
Trixi musste auf einmal an die Muschel denken, die ihr Flora vom einzigen größeren Urlaub zusammen mit ihrer Mutter mitgebracht
hatte. Oft hatte sie sich die Muschel ans Ohr gehalten und dem Rauschen gelauscht, das so dicht an ihrem Ohr war und gleichzeitig
so wunderbar weit weg klang. So wie jetzt. Doch das Rauschen, was sie gerade hörte, klang nicht nach Meer und Wind und Salz.
Es klang, als würde sich am anderen Ende der Leitung das unendliche, einsame Weltall ausbreiten.
»HAL-LO!«, rief Trixi ins All. Keiner antwortete. Trotzdem hatte Trixi das Gefühl, dass jemand am anderen Ende sein Ohr genauso
an den Hörer drückte wie sie.
»Was ist los?«, fragte Herr Jerger.
Trixi nahm den Hörer vom Ohr und sah auf die Anzeige.
Anonym
. Sie zuckte mit den Schultern und presste sich den Hörer wieder ans Ohr. Auf einmal hörte sie etwas. Erst ganz leise. Als
würde jemand im Winter gegen ein Fenster hauchen. Dann wurdees lauter. Schneller. Gehetzt. Jemand atmete in den Hörer.
»Wer ist da?«, fragte Trixi. Es klang, als hätte sich Raureif auf ihre Stimmbänder gelegt.
Das Atmen wurde noch intensiver, noch drängender, als würde der Mensch am anderen Ende der Leitung rennen.
Trixi hielt sich mit einer Hand am Fensterbrett fest und sah instinktiv aus dem Fenster. Die Straße lag ruhig und verlassen
im goldgelben Licht der Laternen. Schlief wie aus einem vergangenen Jahrhundert. Der große Lindenbaum in der Einfahrt zum
Hof des Häuserblocks gegenüber hob sich wie ein schwarzer Riese vom Abendhimmel ab. Darunter stand eine dunkle, klobige Gestalt.
Trixi starrte sie an. »Hallo?«, sagte sie, ohne den Blick abzuwenden.
Plötzlich knackte es in der Leitung. Dann war von einer Sekunde auf die andere alles verschwunden. Das Rauschen. Das Knistern.
Das Atmen. Ein durchgehender Ton erklang, der signalisierte, dass der andere Teilnehmer aufgelegt hatte.
Trixi ließ den Hörer langsam sinken. Ihr Ohr glühte. Sie starrte noch immer auf die klobige Gestalt in der Einfahrt gegenüber.
Erst jetzt erkannte sie, dass es eine Mülltonne war. Der Hausmeister musste sie in die Einfahrt gestellt haben. Jemand hatte
einen schwarzen Plastiksack daraufgelegt.
»Trixi, wer war das denn?«, fragte ihre Mutter.
»Falsch verbunden.«
8. Kapitel
»Und du bist dir sicher, dass es in ganz Telpen nur ein Liegerad gibt?« Polizeihauptmeister Leif Sälzer sah zu seinem Streifenpartner,
der hinter dem Steuer des Dienstwagens saß.
»Keine Ahnung, wie viele Liegeräder es in Telpen gibt. In Kraldorf gibt es jedenfalls nur eins.«
Masaryk war nach der Vernehmung mit Annedore Panier zu der Stelle am See gegangen, wo laut ihren Angaben in der Nacht vom
2. Juli der Hund angeschlagen hatte. Bis auf ein verlassenes Vogelnest und einen alten Handschuh, der jemandem vermutlich im
Winter ins Wasser gefallen war, fanden sie dort nichts. Danach hatte Masaryk sich auf die Suche nach dem Liegeradfahrer gemacht,
den Frau Panier in der Tatnacht gesehen hatte. Er war überzeugt davon, dass der Liegeradfahrer eine Schlüsselfigur war. Er
war ein wichtiger Zeuge. Wenn nicht noch mehr. Obwohl er vor der vermuteten Tatzeit vom See weggefahren war, konnte er etwas
gesehen haben. Oder er war zurückgekehrt – aus welchem Grund auch immer.
»Wie viele Einwohner hat das Nest denn? Fünfzig?« Sälzer umklammerte den Haltegriff über derTür, als Masaryk ohne zu bremsen auf die Landstraße nach Kraldorf abbog.
»Zweiundachtzig. Von denen sind nur achtzehn unter fünfundzwanzig. Und von diesen achtzehn sind nur fünf über zehn Jahre alt.
Und von diesen fünf besitzt nur einer ein Liegerad. Patrick Felber.«
Sälzer runzelte die Stirn.
»Ist genauso alt wie Flora Duve, gleiche Schule, Parallelklasse.«
»Felber ...« Sälzer strich sich über das Kinn. Es stachelte. Hatte er den Namen schon einmal gehört oder bildete er sich das nur ein?
»Felber ... Warte mal, dieser Wilbert Felber, hat der was damit zu tun?«
Masaryk nickte. »Ist der Vater. Hat regelmäßig Ärger mit Anwohnern, Tierschutz, dem Bürgerbüro und so weiter. Er betreibt
so einen Gnadenhof für Tiere. Die Nachbarn beschweren sich ständig über den Gestank, das Gebell und die Unordnung. Außerdem
steht schon seit einiger Zeit das Gerücht im Raum, Felber würde die Tiere nicht artgerecht
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