Träum ich?: Roman (German Edition)
ein.
»Meinen Vater«, erklärt Selma.
»Aber das war doch ein Unfall«, erinnere ich sie. Sherman war die Niagarafälle hinuntergestürzt.
»Ich werde es nie begreifen, warum wir ausgerechnet dort Urlaub gemacht haben«, sagt Dolly kopfschüttelnd. »Wer überlebt schon die Niagarafälle?«, fragt sie rhetorisch.
»Er wurde eine Riesensensation. Die Zeitungen waren voll von Geschichten über den unverwüstlichen Sherman. Der Ruhm stieg ihm zu Kopf.«
»Und er rührte keinen Finger mehr für mich«, sagt Dolly und verschränkt verächtlich ihre Arme vor der Brust. »Vor dem Niagara fall war er so freundlich und zuvorkommend, und auf einmal war er sich zu gut dafür, mir auch nur ein Marmeladenglas zu öffnen. Ich ertrug es einfach nicht mehr. Du weißt, wie ich es hasse, im Rampenlicht zu stehen. Aber Sherman ging dann zum Zirkus. Er heiratete eine Frau mit zwei Köpfen. Eine Schande. Ich habe ihn so geliebt.«
»Damals war ich drei Jahre alt«, sagt Selma traurig.
»Und dann war da natürlich noch August Reinhart«, seufzt Dolly.
»Wer?«, frage ich nach.
»August Reinhart sprang nicht nur die Niagarafälle hinunter, sondern rezitierte dabei auch noch Shakespeare.«
»Aus Richard III ., erster Akt, erste Szene«, ergänzt Selma. » Nun ward der Winter unseres Missvergnügens … Es hieß, es sei eine unglaubliche Darbietung gewesen.«
»So zerstörte August Shermans Karriere. Die Frau mit den zwei Köpfen verließ ihn wegen des dicken Mannes und wir sahen ihn nie wieder«, seufzt Dolly. »Als Selma ins heiratsfähige Alter kam, flehte ich sie an, die Finger von den Männern zu lassen.«
»Sie erzählte mir die Geschichten unserer weiblichen Vorfahren.«
»Aber sie glaubte mir genauso wenig wie du uns jetzt.«
»Erst fünf Ehemänner später wurde mir klar, dass sie recht hatte.«
»Sie alle nahmen ein schlimmes Ende«, sagt Dolly seufzend.
»Und jetzt geht es wohl von vorne los.«
»Ich glaube es immer noch nicht«, sage ich, stehe auf und laufe durchs Zimmer. »Das waren doch alles nur Zufälle. Moms erster Mann …«
»Paul.«
»Hirsutismus«, murmelt Selma.
»Was?«, frage ich.
»Übermäßiger Haarwuchs. Eine Krankheit.«
»Er hätte wie ihr Vater im Zirkus auftreten können«, sinniert Dolly.
»Nein, er ging zwar zum Variété, verstopfte dort aber ständig die Abflüsse.«
»Dann kam der Zweite, mein Vater.«
»Er verschwand in einer Parade.«
»Er wurde von einem Micky-Maus-Festwagen mitgerissen.«
»Das hab ich dir nur erzählt«, gesteht Selma. »Eigentlich war es eine Blaskapelle aus Louisville. Er geriet einfach zwischen die erste und die zweite Tuba und verschwand spurlos.«
»Hast du denn nach ihm gesucht?«
»Natürlich. Ich hab alles versucht, aber niemand wusste, wovon ich sprach. Ist das nicht verrückt? Mein Mann wurde von einer Tuba aus Louisville verschluckt. Wer sollte mir das glauben?«
»Ich hätte es dir geglaubt«, sagt Dolly.
»Danke, Ma. Aber was war noch mal mit dem nächsten Mann?«
»Der Dritte bekam Schluckauf«, erinnert Dolly sie.
»Ach ja, stimmt. Der Ärmste. Eines Tages bekam er Schluckauf und wurde ihn nie wieder los. Ich hab alles versucht: Schocktherapie …«
»Damit hast du mich erschreckt.«
»Ich hab mich selbst erschreckt. Hab seitdem auch nie wieder Schluckauf gehabt.«
»Und was ist aus ihm geworden?«
»Er fuhr für ein Wochenende allein nach Atlantic City und dort hörte der Schluckauf plötzlich auf. Als er nach Hause kam, fing er wieder an, sobald er mich sah. Da wusste ich, dass die Sache hoffnungslos war.«
Dolly senkt kopfschüttelnd den Kopf.
»Der Vierte ist eines Tages einfach verschwunden. Nie mand wusste, wohin er ging. Er rannte einfach los und kam nie mehr zurück. Was mit dem Fünften war, weiß ich nicht mehr.«
»Die Mafia.«
»Ach ja«, lacht Selma. »Der Bandenkrieg.«
»Genau, der Bandenkrieg. Dabei war er nicht mal Mafioso, sondern Pastor!«
»Er wusste auch nicht, woher er die Waffe hatte. Plötzlich hatte er sie in der Hand und schoss auf einen Mann.«
»Hat er ihn umgebracht?«, frage ich.
»Nein, nur in den Fuß geschossen. Aber die Mafia war so angetan, dass sie ihn in ihre ehrenwerte Gesellschaft auf nahm. Offenbar schuldete der Angeschossene der Mafia Geld. Also wurde der Pastor Mitglied der Mafia. Er lebt jetzt unter falschem Namen in Arizona.«
»Aber das heißt noch lange nicht, dass Emmalinas Fluch die Ursache von all dem ist«, erkläre ich. »Es gibt keine Beweise dafür.«
»Beweise?«,
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