Träum ich?: Roman (German Edition)
gewandt.
»Nein, das war alles«, antwortet Selma.
»Schade.«
»Wirklich sehr schade«, nickt Selma.
Ich sitze als Einzige noch auf der Sofakante, mit dem Brief in der Hand.
Drei
S eit fünf Minuten verharre ich schon in derselben Haltung. Selma und Dolly sind bereits aufgestanden und haben angefangen, den Esstisch abzuräumen. Ich habe die Geschichte wieder und wieder durchdacht und kann nur zu einem einzigen Schluss kommen.
»Das ist der größte Mumpitz, den ich je gehört habe!«, explodiere ich. »Wegen dieser Geschichte habt ihr mir alle Beziehungen mit Männern vermiest? Das ist doch absurd!«
»Überhaupt nicht«, widerspricht Selma mit Nachdruck. »Wenn du aus Liebe heiratest, bringt es dir und deinem Bräutigam Unglück – vor allem dem armen Bräutigam.«
»Woher weißt du, dass der Fluch funktioniert?«
»Sieh dir doch nur die Beweise an«, fleht Selma.
»Zuerst war da deine Urgroßmutter Hilde, die Tochter von Astrid und Hermann«, erklärt Dolly.
»Sie heiratete ihre große Liebe, J. J. Gainsboro, und zwar im Juni 1928 . J. J. war ein Star an der Wall Street, ein echter Tycoon. Sie wohnten in einem riesigen Anwesen auf Long Island«, sagt Selma mit sehnsüchtigem Blick.
»In einem Schloss im englischen Stil mit vierzig Zimmern, umgeben von zehn Hektar Parklandschaft.«
» 1929 bekam Hilde eine Tochter namens Dolly.«
»Dich also«, bemerke ich.
»Ja, mich«, strahlt Dolly, in Gedanken an ihre Kindheit.
»Und dann …«, sagt Selma und sieht Dolly an.
»Kam der Börsencrash 1929 .«
»J. J. war derjenige, der ihn auslöste.«
»Er hatte all seine Kunden dazu gebracht, in Stummfilme zu investieren. ›Tonfilme werden sich niemals durchsetzen …‹, behauptete er.«
»Und dann kam natürlich …«
»›Der Jazzsänger‹«, sagen sie wie aus einem Munde. »Der erste Musical-Film«, erläutert Dolly.
»Es war wie beim Domino: Erst crashte eine Bank, dann die nächste, dann noch eine, und kurz darauf war das ganze Land pleite. Hilde und ich blieben mittellos zurück.«
»J. J. musste sich auf irgendeine entlegene Fidschi-Insel zurückziehen. Mutter und ich konnten nicht mit, weißt du, sie bekam so leicht Sommersprossen.«
»Also zogen Hilde und Ma nach Philadelphia«, erklärt Selma.
»In New York konnten wir nicht bleiben. Zu viele traurige Erinnerungen. Dann lernte Hilde Gerard kennen, meinen Stiefvater«, sagt Dolly lächelnd.
»Gerard … die zweite Liebe ihres Lebens. Sie waren so glücklich. Bis er Coca-süchtig wurde.«
»Kokain? Drogen?«, frage ich schockiert.
»Drogen?«, lacht Dolly. »Nein, er war nicht süchtig nach Kokain, sondern nach Coca-Cola. Er trank sie literweise.«
»Und wurde immer fetter«, fügt Selma hinzu.
»Bis er nach einem Jahr durch keine Tür mehr passte«, erklärt Dolly. »Coca-Cola wurde sein ganzer Lebensinhalt. Die Sucht überwältigte ihn. Er stahl Hilde Geld aus dem Portemonnaie und verjubelte es im Getränkeshop. Sie konnte ihm nicht mehr trauen und musste ihn schließlich verlassen.«
»Dann heiratete sie Leon.«
»Was ja auch gut und schön gewesen wäre, hätte er nicht bereits Frau und Kinder gehabt.«
»Es gab keinerlei Hinweise, dass er schon verheiratet war. Leon und Hilde hatten zusammen ein Geschäft und verbrachten vierundzwanzig Stunden am Tag miteinander, doch dann tauchte plötzlich seine zweite Familie auf. So funktioniert der Fluch. Dabei hatte er nicht mal Zeit gehabt, eine zweite Familie zu gründen. Wirklich nicht! Es war der Fluch!«
»Als Nächster kam Franklin.«
»Vom Blitz getroffen.«
»Ist er daran gestorben?«, frage ich.
»Gestorben?«, fragt Dolly zurück, als hätte ich ihr eine aberwitzige Frage gestellt. »Er wurde zu einem wandelnden Fliegenfänger. Sobald sich eine Fliege auf ihn setzte, fing er an zu bizzeln und tötete sie mit einem Stromschlag. Er hielt uns nächtelang wach, weil er jedes Mal surrend aufblitzte, wenn eine Fliege auf ihm landete. Wir mussten ständig die Fenster geschlossen halten, aber irgendwie fanden die Fliegen immer einen Weg ins Haus. Meine Mutter kam sich vor, als läge sie mit einer Neonreklame im Bett… Blitz an, Blitz aus, Blitz an, Blitz aus«, sagt Dolly und spreizt zur Veranschaulichung ihre Finger vor meinem Gesicht.
»Danach gab Hilde es auf«, seufzt Selma. »Vor lauter Schlafmangel wurde sie ungenießbar. Die beiden gingen ständig aufeinander los und stritten in einer Tour. Das war das Ende ihrer Ehe.«
»Und dann lernte ich Sherman kennen«, warf Dolly
Weitere Kostenlose Bücher