Träum ich?: Roman (German Edition)
heiraten. Was auch immer.
Auf einmal sehe ich ihn. Da ist er! Mir rutscht das Herz in die Hose. Da ist er.
Er wirkt dünn. Warum wirkt er so dünn? Er wirkt auch müde, der Arme. Er sieht schrecklich aus. Sein Haar ist nicht so voll und glänzend wie sonst. Keine Verlockung mehr für ältere Damen! Und er ist blass, sehr blass. Geht er nicht mehr an die frische Luft? Er sieht aus, als hätte er schon seit Urzeiten keine Sonne mehr gesehen. Und kommt mir das nur so vor, oder ist er auch kleiner? Aber egal: Da ist er, mein Gogo!
»Gogo!«, brülle ich und steige aus dem Wagen.
Perplex sieht er zu mir herüber.
»Ich bin’s, Lily«, rufe ich. Es ist mir egal, ob er mich kennt. Er ist mein Gogo, mein Seelenverwandter, meine gro ße Liebe.
»Sind Sie die Verrückte, die mich zu Hause gesucht hat?«, ruft er wütend.
»Ja«, sage ich und lächle verzückt. »Ich bin’s! Lily. Erinnerst du dich denn gar nicht mehr? Sieh mich doch an! Komme ich dir nicht zumindest ein bisschen vertraut vor?« Ich sehe ihm an, dass er sich nicht an mich erinnert, aber ich bin so aufgeregt, ihn endlich zu sehen. Er muss sich einfach an mich erinnern, er muss einfach!
»Jetzt hören Sie mal zu!«, sagt er aufgebracht. »Ich weiß nicht, wer Sie sind und warum Sie mein Leben ruinieren wollen! Ich bin seit zwölf Jahren mit meiner Frau verheiratet. Ich weiß nicht, wer Sie auf mich gehetzt hat oder warum Sie mich ausgesucht haben, aber ich bitte Sie, mich in Ruhe zu lassen. Sie haben mir heute schon genug Ärger gemacht. Meine Frau glaubt, ich hätte eine Affäre. Wenn mein Schwiegervater davon erfährt, krieg ich noch größeren Ärger. Lassen Sie mich in Ruhe, was auch immer dahintersteckt!«
»Aber Gogo«, versuche ich es jetzt ganz vernünftig. »Ich weiß, es wirkt verrückt. Ich weiß, dass ich mich anhöre wie eine Irre.«
»In der Tat, und ich rufe gleich die Polizei. Also bitte, lassen Sie mich in Ruhe.«
Der Blick in seinen Augen. Ich kenne diesen Blick. Es ist der Blick, den Gogo hat, wenn er sich etwas wirklich wünscht. Als ich ihn das letzte Mal sah, bat Gogo mich, für immer bei ihm zu bleiben. Jetzt bittet er mich um das Gegenteil.
»Es tut mir leid«, sage ich, am Boden zerstört. »Es tut mir leid, dass ich dir so viel Ärger gemacht habe.«
»Dann belästigen Sie mich nicht mehr.«
»Ist gut«, sage ich und kapituliere. Wenigstens habe ich gesehen, dass er wohlauf ist, müde und verhärmt zwar, aber wohlauf. Auf mehr kann ich momentan nicht hoffen. Da ich nicht weiß, wie es weitergehen soll, mache ich kehrt und gehe zu meinem Wagen.
Plötzlich kommt mir eine Idee.
»Dein Name ist Stanley!«, sage ich fest.
»Was?«, fragt er.
»Dein richtiger Name ist Stanley«, sage ich und hoffe, dass bei ihm etwas klingelt.
»Woher wissen Sie das?«, fragt er.
»Weil du es mir gesagt hast. In einer anderen Dimension, irgendwo, irgendwie – das kann ich dir jetzt nicht erklären –, waren wir verheiratet, daher weiß ich, dass du eigentlich Stanley heißt. Dein richtiger Name ist Stanley Angus Goldblatt.«
Er steht da und starrt mich ungläubig an.
»Aber das weiß kein Mensch.«
»Ich weiß, dass das kein Mensch weiß«, erkläre ich. »Aber ich weiß es. Ich kenne dich. Du bist Stanley Goldblatt, so benannt nach deinem Großvater mütterlicherseits.«
»Mir ist unerklärlich, woher Sie das wissen können«, sagt er. »Niemand weiß das. Soll das ein Scherz sein? Wer hat Ihnen das erzählt?«
»Du selbst! Und deine Sozialversicherungsnummer lautet 293-29-2474 .«
»Das kann jeder wissen.«
»Du hast dir ein Muttermal auf dem Bauch entfernen lassen und findest die Narbe toll, weil du damit so verwegen aussiehst.«
Gogo lüftet sein Hemd und zeigt mir die Narbe. Dann lässt er sein Hemd wieder fallen.
»Hören Sie«, sagt er. »Ich weiß immer noch nicht, ob das ein Scherz sein soll.«
»Hier«, erwidere ich, öffne die Tür meines Wagens und hole eine alte Quittung heraus. »Ich gebe dir meine Telefonnummer. Ich würde mich freuen, wenn du mich anrufst, damit ich dir die Sache erklären kann. Aber die Entscheidung liegt ganz bei dir.«
Ich kritzle meine Telefonnummer auf die Rückseite der Quittung und gebe sie ihm.
»Denk einfach darüber nach«, füge ich hinzu und steige in den Wagen. Ich weiß nicht, warum mir jetzt die Tränen kommen, vielleicht liegt es daran, dass ich Gogo sehe und er mich nicht erkennt. Vielleicht heule ich auch deswegen, weil er so schrecklich aussieht. Wie auch immer: Mir kommen
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