Träume der Dunkelheit: Erzählungen (German Edition)
die Bestie uns fand. Sie kam bei Nacht. Ich saß im Wäscheschrank, wo ich immer noch versuchte, mithilfe einer Taschenlampe das Tagebuch zu übersetzen. Ich spürte den Vampir. Ich spürte ihn sofort und wusste, dass er gekommen war, um mich zu holen. Deshalb versteckte ich mich. Statt meinen Vater zu warnen, versteckte ich mich unter einem Stapel Decken. Dann hörte ich meine Eltern und meinen Bruder schreien und hielt mir in meinem Versteck die Ohren zu. Der Untote flüsterte mir zu, zu ihm zu kommen. Ich dachte, wenn ich zu ihm ginge, würde er meine Familie vielleicht nicht töten. Aber ich konnte mich nicht bewegen, war wie gelähmt und außerstande, mich zu rühren, selbst als Blut unter der Tür hindurchfloss. Es sah richtig schwarz aus in der Nacht, nicht rot.«
Falcon schloss sie noch fester in die Arme und drückte sie an sich. Er konnte den Kummer spüren, der sie beherrschte, die unerträglichen Schuldgefühle, die sie quälten, und die Tränen, die für immer in ihrem Herzen und ihrer Seele weggeschlossen waren. Sie war beinahe noch ein Kind gewesen, als sie die brutale Ermordung ihrer Familie durch ein Monster von einzigartiger Schlechtigkeit hatte mitansehen müssen. »Ich bin kein Vampir, Sara«, sagte er beruhigend, »sondern ein Jäger, der diese Untoten vernichtet. Ich habe viele Lebenszeiten fern meines Heimatlandes und meines Volkes verbracht, um diese Kreaturen aufzuspüren und zu töten. Ich bin nicht der Vampir, der deine Familie ausgelöscht hat.«
»Und woher soll ich wissen, was du bist oder nicht? Ich habe gesehen, wie du das Blut dieses Mannes getrunken hast!«, versetzte sie und entzog sich ihm mit einer schnellen Bewegung.
»Ich habe ihn aber nicht getötet«, erwiderte er schlicht. »Vampire töten ihre Beute, ich jedoch nicht.«
Sara fuhr sich mit zitternder Hand durch die seidigen Strähnen ihres kinnlangen Haares. Sie fühlte sich völlig ausgelaugt, als sie ruhelos durch das Zimmer zu ihrer kleinen Küche ging und sich eine Tasse Tee einschenkte. Falcon erfüllte ihr Zuhause mit seiner Präsenz. Es war fast unmöglich, ihn nicht anzustarren. Aus schmalen Augen beobachtete sie, wie er durch ihr Haus ging und fast andächtig ihre Sachen berührte. Er glitt völlig lautlos durch den Raum, fast so, als schwebte er über dem Boden. Sie konnte den genauen Moment bestimmen, in dem er ihren kostbarsten Besitz entdeckte. Auf bloßen Füßen tappte sie zum Schlafzimmer, um sich an den Türrahmen zu lehnen und Falcon einfach nur zu beobachten. Dabei trank sie ihren Tee, der sie von innen aufwärmte und ihr gegen das Frösteln half.
»Gefällt sie dir?«, fragte sie mit plötzlich unsicherer Stimme.
Falcon starrte den kleinen Tisch neben dem Bett an, von dem ihn eine großartige Skulptur seines eigenen Gesichts ansah. Jede Einzelheit, jede Linie stimmte. Seine Augen mit dem verschleierten Blick, die seidige Fülle seines langen Haares, sein markantes, willensstarkes Kinn und seine aristokratische Nase. Am erstaunlichsten war jedoch nicht die Tatsache, dass Sara jedes einzelne Detail perfekt getroffen hatte, sondern vielmehr, wie sie ihn sah. Vornehm, edel und archaisch. Sie hatte ihn mit den Augen der Liebe betrachtet. »Hast du diese Skulptur geschaffen?« Er brachte die Worte kaum heraus, denn ihm steckte ein merkwürdiger Kloß in der Kehle.
Mein dunkler Engel. Saras Seelengefährte .
Die Inschrift war in feinster Kalligrafie verfasst, jeder Buchstabe ein kleines Kunstwerk und ebenso schön wie die Büste selbst.
»Ja.« Sara hörte nicht auf, ihn zu beobachten, und schien erfreut über seine Reaktion zu sein. »Ich habe sie aus dem Gedächtnis angefertigt. Wenn ich Gegenstände berühre, besonders alte, kann ich manchmal eine Verbindung zu Ereignissen oder Dingen aus der Vergangenheit herstellen, die in dem Gegenstand verblieben sind. Das klingt verrückt«, sagte sie schulterzuckend, »und ich kann auch nicht erklären, warum das so ist, doch es passiert mir immer wieder. Als ich das Tagebuch berührte, wusste ich sofort, dass es für mich bestimmt war. Für keine andere Frau der Welt. Es war allein für mich geschrieben. Als ich die Worte dieser alten Sprache, in der es verfasst war, übersetzte, erschien ein Gesicht vor mir. Es war das Gesicht eines Mannes, der an einem kleinen hölzernen Schreibpult saß und schrieb. Er wandte sich mir zu und schaute mich mit einer solch schmerzlichen Einsamkeit in den Augen an, dass ich wusste, ich musste ihn finden. Sein Schmerz und diese
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