Traeume ernten
Felsen steht. Tagsüber unternehmen wir lange Wanderungen über schmale Steinpfade mit spektakulären Aussichten, wir picknicken auf einer Bergwiese am Rand eines verlassenen Dorfes â ich wusste nicht, dass Frankreich so schön sein kann.
Abends führen Anne und ich lange Gespräche am offenen Kamin. Sie ist analytisch und intelligent. Geduldig lauscht sie den nachdenklichen Geschichten über meine Ehe, über das Dilemma, in dem ich mich befinde, meine Angst, das Falsche zu tun. Wir sprechen über Männer, Beziehungen, über die Arbeit. Es ist wunderbar sich näherzukommen, zu merken, dass ich inzwischen auch auf Französisch ich selbst sein kann.
Marijn, Fiene und Laartje genieÃen den Besuch auch. Die Söhne von Anne sind ungefähr im selben Alter, zusammen rennen sie die Treppe hinunter zum Dorf, um Brot zu kaufen oder die Fische im klaren Fluss zu beobachten.
»Das ist eine nette Freundin für dich!«, sagt Marijn später, »auch eine Frau, die alleine ist!« Ich lache sie an. »Das ist nicht dasselbe, Anne ist geschieden, ich nicht.«
»Na und, wir wohnen doch auch alleine mit dir«, sagt Marijn. Ich betrachte die felsige Landschaft, die untergehende Sonne versinkt dunkelrot hinter einem spitzen Berg. Vielleicht will ich die Wahrheit nicht wahrhaben, denke ich erschrocken.
Ich lese meine Mails und entdecke eine Einladung zu einer Verkostung in einer angesagten Weinbar in Lyon. »Es kommt noch ein anderer Winzer, der in Ihrer Nähe wohnt«, schreibt der Besitzer, »vielleicht können Sie zusammen fahren.« Ich lese seinen Namen, François Biron, letzte Woche sah ich ein groÃes Foto von ihm in dem Hochglanzmagazin »Terre de Vins«. Seine Weine sind gut, die Etiketten hat ein mit ihm befreundeter Künstler entworfen. In dieser angesagten Weinbar stehen François Birons Weine auf der Karte. Bei einer Weinprobe hatte ich schon einmal kurz mit ihm gesprochen, er schien nett zu sein â ja, ich werde ihm eine kurze Mail schicken.
Am Tag der Weinprobe fährt ein kleiner weiÃer Bus auf unser Grundstück. In der unsicheren Gestalt, die aussteigt, erkenne ich mit ein wenig Mühe besagten François. Es ist sonderbar, ihn so heimatlos und im Tageslicht vor meinem eigenen Haus zu sehen. Er ist groà für einen Franzosen, hat dichte Locken und hellblaue Augen, aber seine Züge sind weich, und er ist ein wenig zu dick. Sein braunes Samtjackett glänzt an einigen abgestoÃenen Stellen. »Hm, nun ja, hier bin ich also«, murmelt er.
Der Bus hat vorne eine durchgehende Sitzbank mit drei Plätzen, ich stelle meine Tasche auf den mittleren Sitz und rutsche ans Fenster. »Wir müssen noch einen Freund von mir abholen«, sagt François, als wir das Dorf verlassen. Er nimmt einen schmalen Weg und hält vor einem Weinkeller, in dem ein langer, magerer junger Mann damit beschäftigt ist, Wein umzupumpen. »Beinah fertig«, sagt er, »vielleicht wollt ihr euch inzwischen meinen Weinkeller anschauen?«
Halb gebückt betreten wir den dunklen Raum. François schaltet das Licht an, und wir sehen, dass alle leeren Stellen an den feuchten Wänden mit bunten Fotos von Stierkämpfen bedeckt sind. Mein Blick bleibt an einem Stier mit borstigem schwarzem Haar hängen, der zusammengebrochen ist und auf den Vorderbeinen im Sand liegt. Seine Augen spiegeln eher Ãberraschung als Angst wider, während ein breiter Blutstrahl aus seinem Maul schieÃt. Der Freund von François fängt meinen Blick auf. »Ah oui, jâadore la corrida« , sagt er, »es ist gut, den Weinkeller ein wenig zu dekorieren. Meine Kunden schätzen das.« Im Bus soll ich mich offenbar zwischen die beiden Männer quetschen. Der Stierkampf-Liebhaber beginnt zu reden und hört nicht mehr auf, bis er anderthalb Stunden später aussteigt und ich erleichtert einen Platz weiterrutsche. Jetzt versucht François, ein Gespräch mit mir zu beginnen. Es bleibt bei einigen ungeschickt zugeworfenen Bällen, die noch ein, zwei Mal hochspringen und dann auf den Boden fallen. »Wohnt dein Mann jetzt bei dir oder nicht?«, fragt er schlieÃlich.
Ich suche nach einer unverfänglichen Antwort, als ich bemerke, dass wir Lyon bereits erreicht haben â »Wir sind da!«, rufe ich erleichtert.
Die Weinbar »Vercoquin« ist ein tiefer Raum mit groÃen Fenstern, Holztischen, modernen Weinregalen aus
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