Träume jenseits des Meeres: Roman
war auch so schwer genug, und wenn die anderen dächten, er würde bevorzugt behandelt, hätte er am Ende ein Messer im Rücken stecken.
Er lag im Dunkeln und lauschte Stans schwerem Atem. Einen Teil des Geldes hatte er ausgegeben, damit Stan bessere Mahlzeiten erhielt, doch der Mann aus Norfolk lag im Sterben. Er kannte die Anzeichen, denn der Tod war ein regelmäßiger Besucher auf den Gefangenenschiffen. Was mit seiner Frau Bess und seinem Kind geschehen mochte, konnte er nur vermuten. Ohne Zweifel würde sie sich an einen anderen hängen; er hatte es oft genug erlebt. Beziehungen zwischen Sträflingen waren zart gestrickt und hatten nur wenig mit Liebe und Treue zu tun. Es war eher ein Aneinanderkleben auf der Suche nach Trost und Sicherheit, und Billy hatte längst beschlossen, lieber allein zu bleiben.
Stans Atem rasselte, und er drehte sich unter der dünnen Decke unruhig von einer Seite auf die andere. Billy hörte, wie Bess besänftigend auf ihn einredete; er drehte sich auf die Seite, so dass er mit dem Rücken zu den beiden lag, und versuchte, die Augen vor dem Unausweichlichen zu verschließen.
Stan war ein Verbündeter gewesen, seitdem sie in Plymouth angekommen waren. Er war ein alter Hase, wenn es darum ging, das Gefängnissystem zu überleben, obgleich seine Gesundheit in den vielen Jahren der Kerkerhaft gelitten hatte. Trotz seiner äußeren Erscheinung war Stanley nur fünf Jahre älter als Billy, und obwohl sie Freunde hätten sein können, lernte Billy bald, dass man Freundschaften hier am besten vermied. Denn früher oder später würde der Tod oder eine Verlegung sie trennen.
Als die Morgendämmerung durch den morschen Holzrumpf drang, schraken Billy und die anderen Gefangenen durch ungewöhnliche Geräusche auf. Im Laderaum wurde es still; die Gefangenen hielten in ängstlicher Erwartung den Atem an. Es klang, als würde draußen eine Flotte kleiner Boote gegen die Schiffsseite donnern, und über ihren Köpfen war das Getrappel vieler Füße zu hören.
Billy richtete sich auf. Sein Herz schlug höher. Irgendetwas ging da vor, und er hatte das Gefühl zu wissen, was es bedeutete.
»Auf die Beine«, rief der Wärter, als die Luke aufgerissen wurde und das Tageslicht hereinströmte. »Stellt euch in einer Reihe auf und kommt jeweils zu viert herauf.«
Billy packte sein Kleiderbündel und prüfte nach, ob die Münzen noch da waren, die er im Saum seines Hemdes versteckt hatte. Womöglich hätte er später keine Möglichkeit mehr, sie zu holen, und er war erledigt, wenn er etwas für den diebischen Mullins zurückließe. Er zog sich die dreckige Decke über die Schultern und drehte sich zu Stan um.
Der Mann aus Norfolk hatte die Nacht überraschenderweise überlebt, und Bess und Billy gelang es, ihn zwischen sich zu nehmen und auf die Beine zu stellen. Bess kramte ihre wenigen, zerfetzten Habseligkeiten zusammen, nahm ihr kleines Kind und drückte es an sich, die Augen vor Furcht weit aufgerissen.
»Was zum Teufel geht hier vor, Billy?«, rief Nell vom anderen Ende des Rumpfs herüber.
»Weiß der Henker«, schrie er zurück.
Schlurfend versammelten sie sich am Fuß der Leiter. Billy fing Nells Blick auf und grinste. Sie war hübsch, die Kleine. Sie musste ihre Reize dazu eingesetzt haben, Sonderrationen zu bekommen. »Mach dich auf was gefasst, Mädchen«, rief er ihr über die Köpfe hinweg zu.
Sie warf die roten Locken in den Nacken und streckte die Brust vor, die Hände in die Hüften gestemmt. »Warum?«, neckte sie ihn. »Willst du es mir endlich zeigen, Billy?«
Nervöses Lachen machte die Runde. Es war hinlänglich bekannt, dass Nell ihren Mann noch nicht bekommen hatte, obwohl sie sich in den vergangenen Monaten sehr darum bemüht hatte. »Ich habe im Augenblick ziemlich viel zu tun«, entgegnete er und schlurfte mit den anderen weiter vor. »Aber das Warten lohnt sich.«
Sie lachte rebellisch. »Das will ich dir raten, Kumpel, sonst habe ich meine Zeit vergeudet.«
Alle Gespräche verstummten, als die Ersten die Leiter hinauf an Deck stiegen. Bestürztes Raunen war zu hören, und einige Frauen schluchzten. Das Schiff war ihnen trotz der Erniedrigung vertraut geworden – sie waren die herrschende Ordnung hier gewohnt, waren Beziehungen eingegangen und hatten sogar Kinder gezeugt, von denen jedoch nur wenige überlebten. Das Unbekannte war viel beängstigender.
Billy schaute hinauf und sah ein Stück rote Uniform und das Aufblitzen eines Schwertes. Sein Herz begann zu
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