Träume wie Gold: Roman (German Edition)
sie vorher ausgezogen hatte. Unter missmutigem Gebrummel gelang es ihr, mit der Schulter die Treppenhausbeleuchtung anzuknipsen.
Kurz vor ihrer Wohnung bemerkte sie den hellen Lichtschein, der durch die geöffnete Tür des Nachbarapartments in den Hausflur fiel. Der neue Mieter. Sie verlagerte den schweren Karton auf den anderen Arm und trat in die Tür, die durch eine Umzugskiste offen gehalten wurde, und spähte hinein.
Sie sah ihn neben einem alten Tisch stehen. In der einen Hand hielt er eine Flasche, in der anderen ein Glas. Das Zimmer war höchst spärlich möbliert und enthielt außer dem Tisch nur ein Sofa und einen wuchtigen Polstersessel.
Aber ihr Interesse galt in erster Linie dem Mann, dessen Profil sie sah, als er gerade das Glas an die Lippen führte und einen tiefen Schluck nahm. Seine Größe und
sein athletischer Körperbau erinnerten sie an einen Boxer. Er trug ein marineblaues Sweatshirt, dessen Ärmel er bis zu den Ellbogen hochgeschoben hatte – keine sichtbaren Tätowierungen – und abgewetzte Jeans. Sein etwas unordentliches Haar, das ihm bis über den Kragen fiel, hatte die Farbe von reifem Weizen. Im Gegensatz zu seinem lässigen Aufzug war die Uhr, die er am Handgelenk trug, entweder eine verdammt gute Kopie oder tatsächlich eine echte Rolex.
Obgleich ihre Taxierung nur Sekunden gedauert hatte, spürte Dora, dass ihr Nachbar mit dem Whisky nicht seinen Einzug feierte. Sein Gesicht mit den hohen Wangenknochen und dem Dreitagebart wirkte leicht verbittert.
Bevor sie noch einen Laut von sich geben konnte, merkte sie, wie sich sein Körper verspannte und sein Kopf herumfuhr. Dora musste gegen den instinktiven Drang ankämpfen, nicht drei Schritte zurück in Deckung zu gehen, als sie ein hartes, ausdrucksloses Augenpaar durchbohrte, das zudem noch von einem schockierenden Blau war.
»Verzeihung, Ihre Tür war offen«, murmelte sie verlegen und ärgerte sich gleichzeitig, dass sie sich entschuldigte. Schließlich befand sie sich in ihrem eigenen Hausflur.
»Hmm.« Er stellte die Flasche ab und kam mit dem Glas in der Hand auf sie zu. Und nun nahm er seinerseits eine Inspektion vor. Der größte Teil ihres Körpers wurde von dem Pappkarton verdeckt, den sie im Arm hatte. Was er sah, war ein hübsches, ovales Gesicht, am Kinn leicht spitz zulaufend, mit dem altmodisch roséfarbenen Teint, dem man nicht mehr häufig begegnete. Er sah einen vollen ungeschminkten Mund, der sich zu einem Lächeln formte, große braune Augen mit einem Ausdruck freundlicher Neugier, eine aschblonde Haarmähne.
»Ich bin Dora«, erklärte sie, als er sie weiterhin wortlos anstarrte. »Von gegenüber. Brauchen Sie vielleicht ein wenig Hilfe?«
»Nein.« Jed kickte mit dem Fuß die Kiste übers Parkett und knallte ihr die Tür vor der Nase zu.
Es dauerte eine Weile, bis sie diese Reaktion verdaut hatte.
»Na denn, herzlich willkommen in der Nachbarschaft«, murmelte sie verdrossen und ging zu ihrer eigenen Wohnungstür. Nachdem sie umständlich die Schlüssel hervorgekramt hatte, sperrte sie auf, trat ein und schmiss die Tür hinter sich ins Schloss. »Vielen Dank, Dad«, sagte sie laut. »Sieht so aus, als hättest du einen Volltreffer gelandet.«
Sie lud ihre Sachen auf dem buntgeblümten Sofa ab und strich sich ungeduldig das Haar aus der Stirn. Schön anzusehen war der Knabe ja, aber eigentlich hatte sie sich einen Nachbarn mit einem Funken Persönlichkeit und etwas besseren Manieren gewünscht. Sie ging zu ihrem altmodischen Telefon, denn sie wollte ihren Vater anrufen, um ihm umgehend die Meinung zu sagen.
Ehe sie noch die zweite Ziffer der Nummer gewählt hatte, entdeckte sie das Blatt Papier, auf dem ein herzförmiges, strahlendes Gesicht zu sehen war. Quentin Conroy kritzelte stets kleine Zeichnungen – die je nach Stimmung variierten – unter kurze Mitteilungen oder Briefe. Dora legte den Hörer auf die Gabel zurück, um seine Nachricht zu lesen:
Izzy, meine geliebte Tochter.
Dora zuckte zusammen. Ihr Vater war der einzige Mensch auf der Welt, der sie so nannte.
Die Tat ist vollbracht. Und bestens vollbracht, würde ich meinen. Dein neuer Mieter ist ein strammer junger Mann, der mir in der Lage zu sein scheint, dir bei allen niederen Arbeiten zur Hand zu gehen. Sein Name ist, wie du der Kopie des Mietvertrags, der noch deiner Unterschrift harrt, entnehmen kannst, Jed Skimmerhorn. Ein klangvoller Name, der mich an Gentleman-Piraten oder aufrichtige Pioniere denken lässt. Ich fand ihn
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