Traeumer und Suender
seine Gefährten, eine Reise in die Unterwelt durchlitten. Ein viel zu früher Morgen, grau und bis auf das Obst dort im Baum völlig ohne Konturen.
«Wissen Sie, was ich an Ferrara so mag? Den Nebel. Es wirkt gar nicht mehr wie eine italienische Stadt, wenn diese Schwaden sich durch die StraÃen bewegen, eher wie eine Art Tür in das menschliche Innere. Sie hören die Schritte auf dem alten Pflaster, die Häuser sind schön, aber nicht zu schön, um nicht auch für jede andere Stadt auf der Welt gelten zu können, eine Art geheimer Ort, der die Schnittpunkte aller möglichen Leben einzusammeln vermag.
Metaphysisch. Wie dieser de Chirico, der hier angefangen hat seine berühmten Bilder zu malen. Cy hat mir das alles genau erklärt. Die Geometrie, die Figur und die Farben. Ich hab Ihnen doch von meiner Freundschaft zu Twombly erzählt? Er fehlt mir. Jeder Freund, der geht, hinterlässt eine Lücke, die sich nicht füllen lässt. Zumindest in meinem Alter.»
Der alte Mann war wirklich wieder gut in Schuss. Wann immer sie sich in den letzten fünf Monaten gesehen hatten, war er ihm von Mal zu Mal beweglicher vorgekommen, lebendiger. Er hatte auch etwas zugenommen, auch wenn seine Anzüge immer noch flatterig saÃen, wie auf einer beweglichen Kleiderstange. Dennoch gewann der Interviewer immer mehr den Eindruck, dass der Rollstuhl in Rom nur eine Requisite gewesen war. Eine Attrappe, mit der er sein kleines Schauspiel aufgeführt hatte: Der eingebildete Kranke schlägt zurück. Vielleicht war auch der Gehstock, den er noch benutzte, keine Notwendigkeit mehr. Selbst die Beine zitterten nicht, der alte Mann stand ruhig vor dem Ganzköperspiegel in seiner Suite und betrachtete sich.
«Sie sind damals in Venedig einfach zu früh abgereist! Wir hätten feiern sollen. Sokurows Goldener Löwe, das war einfach fantastisch. Und ich hatte ihm gesagt, dass er mit seinem
Faust
groÃe Chancen hat. Er hat sich ja auch an unseren Rat gehalten und deutsche Schauspieler genommen. Sicher, die Bearbeitung des Stoffs ist etwas eigenwillig geraten, monochromes Blau, schräge Kulissen, ein bisschen viel
Caligari
, aber so sind die Russen nun mal.»
«Ein bisschen» war gut. Dieser Film ätzte einem sein «Kunst! Kunst» direkt in die Hornhaut. Als wäre es dem Regisseur um eine Art optischen Tätowierungsvorgang zu tun gewesen.
«Die haben in den letzten Jahren wieder aufgeholt am Markt, nicht nur mit diesen dunklen Fantasy-Epen von Bekmambetov, diesem Tagwache-/Nachtwache-Krieg zwischen den Mächten der Finsternis und des Lichts, Vampire, Gestaltwandler, mit dem ganzen Quatsch, aber alles im zeitgenössischen Moskau, und dann das Zwielicht, dieseNebelwelt voller Mücken und Staub, durch die einige der magisch begabten Gestalten wandern, das ist gut und überhaupt irgendwie originell gemacht. Geben Sie mir noch mal die Bürste?»
Der alte Mann nahm die Bürste aus Wildschweinborsten entgegen und strich sich das wieder sprieÃende dunkle Haar nach hinten. Es war noch zu kurz, um wirklich am Kopf anzuliegen, aber es war da, und es verwandelte ihn. Das Leichenhafte war weg. Fast so, als wäre der Schädel nicht nur unter den Haaren verschwunden, sondern als könnte man sich von dieser Versuchsfrisur irgendwann als Ernte die Früchte der Hesperiden oder ein anderes Jugendelixier versprechen.
«Nun, Geld ist ja da, lange Zeit war alles Kitsch und köstlich, was da aus dem Osten kam, auch und gerade Sokurow. Erinnern Sie sich an
Russian Ark
? Diese elendig gestelzte Kamerafahrt durch die dreiÃig Säle der Eremitage, kommt ganz ohne Schnitt aus, oh, wie haben die Kritiker da an ihren Griffeln gelutscht, Zuckerguss für die tiefe russische, ach so künstlerische Seele? Arch mich doch auch! Das war lächerlich! Anti-Eisenstein, Anti-Pudovkin! Das war Kino für Spezialisten, für Konservative, für Einfaltspinsel. Gut für jemanden, der keinen Film sehen will, sondern eine Idee in Bildern. Oder denken Sie an
Moloch
. Haben Sie den gesehen? Aus Sokurows Diktatorentrilogie. Hitler, Stalin, Hirohito. Gequälter Schrott. Eva Braun tanzt nackig vor den Ferngläsern der Wachtposten auf dem Obersalzberg, ihr Adi stapft in Unterhosen durch die Gegend, fast sieht man die Pissflecken im Feinripp, absurde Tischreden werden gehalten, schleimig schlürfen das Ehepaar Goebbels und der Bormann, Leiter der Staatskanzlei,
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