Träumst du noch oder küsst du schon?: Roman (German Edition)
schönen, friedlichen Ort.«
Abrupt hört Magda auf zu schluchzen und schaut zu mir hoch. Entschlossen schiebt sie sich die Sonnenbrille in die Haare und starrt mich entgeistert an. »Diese Tränen weine ich nicht um Irena.«
»Nicht?«
»Also! Natürlich nicht.« Sie runzelt die Stirn. Oder zumindest
versucht sie es, aber sie hat so viele Botox-Behandlungen hinter sich, dass sie kaum noch eine Miene verziehen kann. »Irena hat gelebt wie eine Königin. Sie hatte Bedienstete, Pelze, Diamanten.« Sie wedelt mit ihren diamantbesetzten Schlagringen vor meiner Nase herum. »Echte Diamanten, nicht solche Glassteinchen wie die hier!«
»Die sind nicht echt?« Jetzt ist es an mir, entgeistert zu gucken.
Magda hickst und schluchzt mitleiderregend. »Alles sind billige Imitationen – meine Diamanten, mein Gucci, mein Louis Vuitton …« Sie feuert ihre Tasche in die Ecke, als könne sie ihren Anblick nicht mehr ertragen. »Ich bin pleite, Lutzi, pleite!«
Alarmiert schaue ich sie an. »Aber ich dachte …«
Um ehrlich zu sein, wusste ich gar nicht so genau, was ich eigentlich dachte. Bei den Designerkleidern und den Schönheitsoperationen und der vornehmen Adresse auf der Upper West Side hatte ich allerdings angenommen …
»Der Schein kann trügen, Lutzi«, erklärt sie. »Das hat meine Tante Irena immer gesagt.« Sie schüttelt den Kopf. »Die Banken, das sind alles Strauchdiebe, die wollen mir alles nehmen, meine Wohnung, meine Galerie …«
»Die Galerie?« Panik überkommt mich.
»Ich kann einfach nicht mit Geld umgehen. Ich leihe mir hier was für dies und da was für das.« Mit hochgezogenen Schultern gestikuliert sie herum.
Wie ich sie so anstarre, überkommt mich die kalte, nackte Angst. Mein erster Gedanke gilt Magda. Wie schrecklich, mit der Angst leben zu müssen, sein Zuhause zu verlieren, und das in ihrem Alter. Aber ich müsste schwindeln, wollte ich behaupten, dass ich mir keine Sorgen machte, was es für mich bedeuten würde, wenn Magda auch die Galerie verlieren würde.
»Dieser Laden darf nicht schließen. Das darf einfach nicht sein!«, rufe ich, ehe ich mich bremsen kann.
Worauf Magda urplötzlich aufspringt, sich zu ihrer vollen Größe aufrichtet und nach meiner Hand greift, die sie dann hochreißt, als seien wir zwei Demonstranten auf einer Protestkundgebung. »Wir tun unser Bestes, Lutzi«, trompetet sie wie einen Schlachtruf heraus. »Unser Allerbestes. Wir geben uns nicht geschlagen.Wir lassen uns nicht ins Boxhorn jagen.«
»Öh … genau!«, erwidere ich etwas unsicher.
»Noch ist nicht alles verloren. Ich habe da einen neuen, vielversprechenden Künstler an der Hand. Er lebt auf Martha’s Vineyard, aber ich glaube, wenn wir ein Treffen mit ihm arrangieren und mit ihm reden könnten, dann würde er womöglich seine Arbeiten bei uns ausstellen. Er ist unglaublich. Einfach unglaublich! Der ist unsere Rettung!« Hellauf begeistert küsst sie schmatzend ihre Fingerspitzen.
Ihr zuzuschauen, wie ihre Lebensgeister wieder erwachen, wie ihre Begeisterung wieder aufflammt, überschwemmt mich mit einer Woge der Zuneigung und Erleichterung.
»Klingt prima.« Ich lächele. Vielleicht hat sie ja recht. Vielleicht wird ja wirklich alles gut.
»Oh, das wird es auch, ganz bestimmt.« Ihre Augen strahlen, sie steht auf, streicht ihr Kleid glatt, fährt sich über die Haare und atmet tief durch. »Okay, genug geheult. Irena würde mich umbringen. Sie würde sagen: ›Magda, was heulst du hier rum wie ein großes Baby?‹ Sie war die Zwillingsschwester meiner Mutter, aber für mich war sie mehr wie eine Mutter.«
Lächelnd drehe ich mich um und will gerade gehen, als mir ein Gedanke durch den Kopf schießt. »Sagten Sie nicht, Irena sei sechsundneunzig gewesen?«
»Beinahe siebenundneunzig«, entgegnet Magda stolz.
Stumm rechne ich im Kopf nach. »Und Sie wurden 1965 geboren«, sage ich und muss an die Kombination für die
Alarmanlage denken. »Das würde also bedeuten …« Ich lege die Stirn in tiefe Dackelfalten. Da stimmt doch was nicht. Da muss ich mich irgendwie verrechnet haben. »Dass Ihre Mutter Sie mit einundfünfzig bekommen hat?«
Magda wird rot. »Ähm … ja, ich weiß!« Sie räuspert sich und tut, als wundere sie das ebenso sehr wie mich. »Die Ärzte konnten es kaum fassen! Ich war ein kleines Wunder!«
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Abends auf dem Nachhauseweg geht mir Magda nicht mehr aus dem Kopf. Sie ist zwar davon überzeugt, die Galerie retten und alles zum Guten
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