Trauerspiel
Tasse zweifelnd an, dann hob er die Tasse von der Untertasse und schlürfte nach kurzem Zögern die Untertasse aus.
Susanne war fasziniert. «Das Böse als Figur, das ist ja spannend!»
Urs strahlte. «Finde ich auch. Den Jago bei Verdi kann man nur vergleichen mit dem Don Giovanni und dem Faust. Männer, die ihre Grenzen ausloten wollen, in jeder Hinsicht. Und die dabei über Leichen gehen oder dies sogar bewusst in Kauf nehmen, manchmal gehört es zum Spiel dazu.»
Susanne trank einen Schluck Tee. «Findest du, es gibt tatsächlich Menschen, die so sind? So böse?»
Urs überlegte. «In der Geschichte gibt's da schon welche. Oder wie würdest du Hitler oder Stalin bezeichnen?»
Susanne dachte nach. «Das waren aber nur zwei. Zwei besonders fiese Extrembeispiele.» Sie blickte auf die Silhouette ihrer Stadt, die sich ihr durch die großen Glasfronten des ‹Mollers› darbot. «Ich meine, gibt es auch heute, hier in Mainz, böse Menschen, so richtig böse, wie Jago?»
Urs goss sich eine neue Tasse Kaffee ein, Susanne wartete gespannt. «Oh, Mist, das war wieder knapp.»
Susanne grinste, Urs hatte die Tasse erneut bis zum Rand mit Milch gefüllt. Die Oberflächenspannung hielt für einen Moment, dann füllte sich wieder die Untertasse.
«Natürlich gibt es die, aber meistens kommen die Bösen nicht zum Zuge, glücklicherweise, muss ich sagen, weil diese bösen Menschen auf die richtige Konstellation angewiesen sind. Sie brauchen andere, wie Jago diesen Cassio oder auch Otello, Typen, die nichts kapieren und alles glauben, was sie so Intrigantes erzählt bekommen. Ja, und Glück brauchen sie natürlich auch. Ihr Glück ist das Unglück der anderen, und umgekehrt. Ganz schön tiefsinnig, oder?» Urs kicherte begeistert über seine eigenen Gedanken und rührte in seiner Tasse. «Aber jetzt muss ich zum Zug, denn die in München wollen schließlich wissen, was ich zum Thema Wissenschaftstheorie zu sagen habe. Mal schauen, wie die Münchner meine Idee finden, dass der Heilige Geist ein Musiker ist!» Urs schlürfte seine Untertasse geräuschvoll aus.
Susanne mochte ihren alten Dozenten wirklich sehr, aber in Sachen Kaffeetrinken war er schon gewöhnungsbedürftig. Sie trank den Rest ihres Tees aus und brachte Urs zum Hauptbahnhof. Irgendwie beneidete sie ihn. Er tänzelte seinem Vortrag in München entgegen, während sie sich in Mainz mit den Verstrickungen des Lebens herumschlagen musste. Ab und an wäre es einfach schön, im Elfenbeinturm zu sitzen und über den Heiligen Geist als Musiker zu meditieren. Susanne seufzte. Vielleicht wäre es eine gute Idee, bei nächster Gelegenheit mal für eine Woche auszuspannen.Arne hatte von einem netten Kollegen in Rom erzählt, der zudem ein echter Gourmet sei. Vielleicht konnte der einen Tipp für ein gutes Hotel und eine Empfehlung für seine Lieblingstrattoria geben. Eine Woche Rom! Das wäre es jetzt. Sie winkte Urs zu, der in Richtung München davonfuhr und trollte sich wieder an ihren Schreibtisch in der Mainzer Altstadt.
* * *
Das Telefon klingelte.
«Ach, Herr Dietrich, wie praktisch, dass ich Sie gleich am Apparat habe!», schepperte eine wohlbekannte Stimme aus dem Hörer.
«Frau Sommer, was kann ich für Sie tun?»
«Ich wollte Ihnen nur kurz mitteilen, dass mein Mann nicht der Mörder von dieser Julia ist.»
«Das ist ja erfreulich», meinte Arne trocken, «aber das hatten Sie doch bereits zu Protokoll gegeben, ich erinnere an den Empfang des Intendanten.»
«Äh, ja», entgegnete Frau Sommer, «jetzt bringen Sie mich doch nicht völlig durcheinander! Ich war ja noch nicht fertig! Also, abgesehen davon, dass er es nicht war, weil wir beim Empfang waren, war er es auch nicht, weil er gar nichts mit dieser Julia hatte.»
Arne war verblüfft. «Ach ja, aber Sie haben uns doch von diesem Foto erzählt.»
«Ach was!» Unwirsch fegte Frau Sommer den Einwand vom Tisch. «Der hatte nichts mit dieser Julia. Was ich versehentlich nicht erzählt habe, ist, dass ich das Foto dieser Julia vor die Nase gehalten und sie zur Rede gestellt hatte. Die hat sich das Foto ganz entgeistert angesehen und behauptet, es wäre gefälscht. Sie hätte nie etwas mit meinem Mann gehabt. ‹Das wäre ja Ehebruch, und ich begehe keinen Ehebruch›, hat sie so gestelzt gesagt. Ich habe das natürlich für eine Ausrede gehalten, aber inzwischen denke ich, sie hat die Wahrheit gesagt. Also, deshalb ist mein Mann nicht mehr verdächtig. Notieren Sie das!»
«Jawohl, Frau Sommer»,
Weitere Kostenlose Bücher