Trauerweiden
Schwester?«
Claudia Waldmüller nippte an ihrem Rotwein und zuckte die Achseln. »Wissen Sie, wir waren sehr verschieden, wir zwei.«
Die alte Frau Waldmüller neben ihr schniefte.
»Die Jessica war … nun … ich will mal sagen, auch mit wenig zufrieden, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Nein?«
Claudia räusperte sich. »Sehen Sie, wir waren damals beide auf dem Gymnasium, und ich habe eben das Abitur gemacht und Jura studiert, und die Jessica hat nach der Zehnten aufgehört und Friseuse gelernt. Aber nicht etwa, weil sie schlecht gewesen wäre. Sondern weil sie keine Lust mehr auf Lernen hatte. So war eben die Jessica.«
»So Zeug war der egal«, warf nun Florian ein und bedachte seine Schwägerin mit einem giftigen Blick. »Die Jessi war glücklich.«
»Also, meine Schwester war dann eben mit dem Florian zusammen, der natürlich ein braver Mann ist«, fuhr Claudia fort, und Heiko fühlte sich in seinem Eindruck, was das vorletzte Jahrhundert betraf, bestätigt. Auch entging ihm nicht die beißende Ironie, die geradezu an Bösartigkeit grenzte und die durch Claudias spöttisches Lächeln noch verstärkt wurde.
»Ich hingegen bin mit einem Mediziner verheiratet.«
»Der ist aber nie da, weil er in Afrika bei den Negern rumschwirrt. Echt ein toller Kerl«, warf Florian gehässig ein.
Claudia Waldmüller rümpfte die Nase. »Mein Mann baut im Kongo eine Klinik für misshandelte Frauen auf. Und ich selbst bin Richterin am Heidelberger Strafgericht.«
Lisa lächelte, und Heiko nickte beiläufig. Die hatte er gefressen, das war ja ein unmögliches Weib. Trotzdem konnten sie die Dame wohl getrost von der Liste der Verdächtigen streichen, denn die würde sich ganz bestimmt nicht nachts aus dem Hinterhalt auf ihre Schwester stürzen und ihr ein Küchenmesser ins Herz rammen. Die hätte einen afrikanischen Speer verwendet, der Kultur wegen. Heiko unterdrückte ein Grinsen. Obwohl. Möglich war alles. Und diese überkandidelte Dame im Frauengefängnis, so mit einmal die Woche duschen und einem Stück Seife und so … das war durchaus eine interessante Vorstellung. Der alten Frau Waldmüller war die ganze Sache nun wohl doch unangenehm.
»Sie kennen das vielleicht, wenn Mädchen so unterschiedlich sind?«, versuchte sie lächelnd zu vermitteln.
Heiko brummte »Hm«.
»Mama, dürfen wir aufstehen?«, fragte plötzlich eines der bezopften Mädchen.
Die Blonde lächelte ihre Töchter huldvoll an. »Ja, aber seid nicht laut. Das hier ist eine Beerdigung.«
Artig nickten die beiden und erhoben sich.
»Da haben Sie aber brave Töchter«, lobte Lisa, obwohl sie die beiden für ihre vielleicht sieben und neun Jahre insgeheim fast etwas blutleer fand.
»Ja, nicht?«, strahlte die Frau. »Sie sind auch mein ganzer Stolz – unser Stolz, nicht wahr, Liebling?«, meinte sie und versetzte ihrem Mann, der gerade so aussah, als wäre er unendlich müde, einen Stoß. Der nickte ergeben und versuchte ebenfalls ein Lächeln. »Ja, die Heidemarie und die Annabella sind wirklich liebe Kinder, ganz liebe.«
Heidemarie und Annabella, oh mein Gott, die armen Kinder, dachte Heiko, verzog aber keine Miene. Sein Blick wanderte zu den Mädchen, die sich an einem der Nachbartische niedergelassen hatten und mit steinerner Mimik »Schwarzer Peter« spielten. »Wissen Sie, die Familie ist mir das Wichtigste überhaupt«, erklärte die Frau. »Deshalb bin ich auch zu Hause, seit die Heidemarie auf der Welt ist. Ich möchte, dass meine Kinder sich bestmöglich entwickeln. Die Heidemarie kommt in zwei Jahren aufs Gymnasium.«
Heiko fragte sich, woher sie wohl wusste, dass ihre Tochter in zwei Jahren auf dem Gymnasium landen würde, aber er konnte sich nach kurzem Nachdenken schon vorstellen, warum. Sicherlich würde diese Übermutter ihre Kleine so lange mit Hausaufgaben und Zusatzaufgaben triezen, bis die nur noch Einser schriebe, egal, wie schlau oder wie dumm das Kind war.
»Meine Frau macht das alles sehr gut«, meinte der Mann, und es klang eher auswendig gelernt.
»Ja, und weil bei uns die Familie so wichtig ist, nimmt mich das mit der lieben Jessi auch so mit«, fuhr die Frau fort, und Heiko wusste nicht, ob ihre Trauer echt war oder gespielt. Nun gut, es kam ja oft vor, dass Frauen sich eigentlich nicht verstanden, aber eben so taten.
»Wir alle finden das ganz, ganz furchtbar schlimm«, schaltete sich nun der alte Ehrmann ein. »Meine Elke ist eine ganz Gute, müssen Sie wissen. Die macht das alles perfekt. Und sie
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