Trauma
gemütlicher aussah.
Laut Annie hatte das Monster im Kleiderschrank Schuppen, massenhaft winzige Zähne, rote Augen und Klauen, die es blau anmalte. Es fraß ebenfalls Kinder, aber es verschlang sie nicht in einem Happs wie Lucys Monster, sondern mümmelte sie langsam, Stück für Stück.
Natürlich erklärten wir den Mädchen, dass im Kleiderschrank keinerlei Monster hausten, aber alle Eltern wissen, wie wenig solche Beteuerungen fruchten.
Lorrie entwarf an ihrem Computer ein schickes Schild mit roten und schwarzen Lettern, druckte es aus und klebte es an die Innenseite der Kleiderschranktür: MONSTER, AUFGEPASST! ZUTRITT ZU DIESEM ZIMMER VERBOTEN! WENN IHR DURCH EINEN SPALT IM BODEN VOM SCHRANK REINGEKOMMEN SEID, DANN MÜSST IHR SOFORT WIEDER DARIN VERSCHWINDEN! TYPEN WIE IHR SEID HIER IM HAUS NICHT ZUGELASSEN!
Das beruhigte die beiden eine Weile. Allerdings sind irrationale Ängste bekanntlich am beharrlichsten.
Das gilt nicht nur für Kinder. In einer Welt, in der allerhand äußerst dubiose Regierungen nach Atomwaffen streben, gibt es erstaunlich viele Menschen, die ein zusätzliches Gramm Fett in ihrer Diät und ein Millionstel Prozent Pestizide in ihrem Apfelsaft mehr fürchten als Kofferbomben.
Um die Mädchen zusätzlich zu beruhigen, postierten wir Leutnant Knuddel, einen Teddybären mit Militärmütze, auf einem Stuhl neben dem Kleiderschrank. Er diente als Wächter, auf den sie sich verlassen konnten.
»Das ist doch bloß ein blöder Bär«, erklärte Annie.
»Genau. Blöd«, stimmte Lucy zu.
»Der kann doch keine Monster wegjagen«, maulte Annie. »Die fressen ihn auf.«
»Genau«, sagte Lucy, »die fressen ihn und würgen ihn aus.«
»Aber überhaupt nicht«, widersprach Lorrie den beiden, »der Leutnant ist sehr gescheit und stammt aus einer alten Familie von Bären, die seit Jahrhunderten liebe kleine Mädchen bewachen. Sie haben noch nie ein Kind verloren.«
»Kein einziges?«, fragte Annie zweifelnd.
»Keines«, bestätigte ich ihr.
»Vielleicht haben sie doch welche verloren, aber nachher gelogen«, sagte Annie.
»Genau«, sagte Lucy, »gelogen!«
»Sieht Leutnant Knuddel wie ein Lügner aus?«, fragte Lorrie.
Annie betrachtete ihn genau. »Nein«, erwiderte sie dann, »aber Oma sieht auch nicht so aus, und Opa sagt, sie hat gar niemand gekannt, der an einem Furz explodiert ist, wie sie erzählt.«
»Genau«, sagte Lucy, »an einem Furz!«
»Opa hat nie behauptet, dass Oma lügt«, mischte ich mich ein. »Er hat bloß gemeint, sie übertreibt manchmal ein bisschen.«
»Leutnant Knuddel sieht nicht wie ein Lügner aus, und er ist auch keiner«, stellte Lorrie fest. »Deshalb solltet ihr euch bei ihm entschuldigen!«
Annie kaute einen Moment auf ihrer Unterlippe. »Tut mir leid, Leutnant Knuddel.«
»Genau«, sagte Lucy. »Knuddel!«
Abgesehen davon, dass wir immer ein Nachtlicht mit Pu-Bär-Design brennen ließen, gaben wir jedem Mädchen eine kleine Taschenlampe. Wie jeder weiß, lässt ein Lichtstrahl sämtliche würgenden und mümmelnden Monster unverzüglich explodieren.
Zwölf Monate vergingen und damit ein weiteres schönes Jahr voll herrlicher Erinnerungen und ohne echten Schrecken.
Drei der fünf Daten auf der Rückseite der Freikarte lagen noch in der Zukunft, und wir konnten keineswegs annehmen, dass auch nur eine der Prüfungen, die mich erwarteten, irgendetwas mit Konrad Beezo zu tun hatte. Klugerweise mussten wir daher noch mehr auf Bedrohungen achten, für die weder der Clown noch sein im Gefängnis sitzender Sohn verantwortlich waren.
Seit der Nacht meiner Geburt waren achtundzwanzig Jahre vergangen. Wenn Beezo noch am Leben war, dann musste er jetzt
bald sechzig sein. Womöglich war er noch immer so wahnsinnig wie eine von ihrem künstlichen Labyrinth kirre gemachte Laborratte, aber die Zeit musste von ihm ihren Tribut gefordert haben wie von jedem anderen. Bestimmt war sein Hass nicht mehr so leidenschaftlich, seine Wut nicht mehr so aggressiv.
Als der Sommer 2002 zu Ende ging, hatte ich den Eindruck, wir würden Konrad Beezo nicht wiedersehen.
Im September, als unser Andy sechsundzwanzig Monate alt war, entdeckte er sein eigenes Kleiderschrankmonster. Es war ein Kinder fressender Clown.
Als er uns zum ersten Mal davon erzählte, trauten wir unseren Ohren nicht. Unsere Bestürzung war unbeschreiblich. Obwohl unser Haus dafür eigentlich nicht geeignet war, bestellten wir eine Firma, die eine Alarmanlage installierte. Sämtliche Türen und Fenster
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