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Trauma

Trauma

Titel: Trauma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Koontz
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meinte. Dann wurde mir klar, dass der »echte Jimmy« das Kind war, das meine Eltern verloren hatten.
    »Charlene hatte in jener Nacht eine große Strohtasche dabei«, sagte ich. »Sie hat das tote Baby in ein weiches weißes Tuch gewickelt, es in diese Tasche gelegt und vom Krankenhaus direkt zu ihrem Pfarrer gebracht.«
    »Ich bin als Baptistin geboren und aufgewachsen«, sagte Charlene, »in einer der fröhlichen Konfessionen. Am Sonntag ziehe ich mich zum Kirchgang hübscher an als für den Samstagabend, und meine Familie lobt den Herrn mit Gospelsongs. Wenn der Pfarrer mir gesagt hätte, ich hab was Unrechtes getan, dann hätte ich es wahrscheinlich rückgängig gemacht. Aber falls er damals tatsächlich Zweifel an meinem Handeln hatte, dann hat sein Mitgefühl die zunichte gemacht. Unsere Kirche hat einen eigenen Friedhof, also haben der Pfarrer und ich da eine hübsche Ecke für Maddys Baby gesucht. Da haben wir es mit einem Gebet vergraben, bloß wir beide, und ein Jahr später hab ich einen kleinen Grabstein gekauft. Wenn es mich überkommt,
dann lege ich Blumen darauf und sage dem kleinen Jungen, der da liegt, was für ein gutes Leben unser Jimmy hier an seiner Stelle lebt und wie stolz er auf ihn sein kann.«
    Ich war mit meinen Eltern auf dem Friedhof gewesen und hatte den Grabstein gesehen, ein einfaches, fünf Zentimeter dickes Rechteck aus Granit. Hineingemeißelt sind die Worte: HIER LIEGT BABY T. GOTT HAT ES SO SEHR GELIEBT, DASS ER ES SCHON BEI DER GEBURT ZU SICH GERUFEN HAT.
    Vielleicht liegt es an unserer irregeleiteten Willensfreiheit, vielleicht auch nur an erbärmlichem Stolz; jedenfalls leben wir unser Leben in der Überzeugung, wir stünden im Mittelpunkt des Schauspiels. Nur selten erleben wir Momente, in denen wir uns von außen betrachten, Momente, die uns von unserem Ego trennen und zwingen, die Dinge in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Dann erkennen wir, dass dieses Schauspiel eigentlich ein gewaltiges Gewebe ist, in dem jeder von uns nur einen Faden darstellt; und doch ist jeder Faden unentbehrlich für die Vollständigkeit des Ganzen.
    Als ich vor jenem Grabstein stand, ergriff mich ein solcher Moment wie eine anschwellende Woge, die mich herumwirbelte und wieder ans Ufer spülte – mit größerer Achtung für die unentwirrbare Komplexität des Lebens und mit mehr Demut angesichts unergründlicher Geheimnisse.

58
    Bittere Kälte verdichtete die Schneeflocken zu Körnchen, die an die Gefängnisfenster prasselten, als spukten die Opfer der Insassen am hellichten Tag, um ihre Mörder auf sich aufmerksam zu machen.
    Als Charlene alles erzählt hatte, was sie wusste, und wieder hinausgegangen war, beugte Punchinello sich zu mir und fragte mit offenkundigem Ernst: »Fragst du dich eigentlich auch manchmal, ob du wirklich da bist?«
    Die Frage machte mich nervös, nicht weil ich sie nicht verstand, sondern weil ich Angst hatte, sie könnte auf irgendein völlig abseitiges Terrain führen, von dem es keine gute Verbindung zu dem Anliegen gab, das uns hergeführt hatte.
    »Was meinst du damit?«, fragte ich zurück.
    »Du weißt nicht, was ich meine, weil du nie angezweifelt hast, wirklich da zu sein. Manchmal gehe ich über den Hof und habe das Gefühl, dass niemand mich sieht, weil ich unsichtbar geworden bin. Oder ich wache mitten in der Nacht auf und bin überzeugt, dass draußen hinter meinem Fenster überhaupt nichts ist, nichts außer Finsternis, einem Vakuum. Dann habe ich Angst aufzustehen und hinauszuschauen, weil ich vielleicht eine vollkommene Leere sehen würde, und wenn ich mich vom Fenster abwende, ist auch meine Zelle verschwunden, und ich kann schreien, ohne ein Geräusch zu machen, ich schwebe einfach da im Nichts, ohne etwas zu spüren, zu riechen und zu schmecken, taub und blind. Die Welt ist verschwunden, als hätte es sie nie gegeben, ich habe keinen Körper, den ich spüren kann, keinen Herzschlag,
und trotzdem kann ich nicht aufhören zu denken, immer nur zu denken, zornig und fieberhaft darüber nachzudenken, was ich nicht habe und was ich will, was ich habe, aber loswerden will, dass ich niemandem etwas bedeute und umgekehrt, dass nichts wirklich ist, und doch sind da diese ganzen Erinnerungen, diese tobenden, hartnäckigen, verhassten Erinnerungen .«
    Verzweiflung bedeutet, dass man alle Hoffnung fahren lässt. Wenn aber Hoffnungslosigkeit ein Ventil sucht, dann tut sie das kraftvoll und absolut rücksichtslos. Alles, was Punchinello gelernt hatte, vom

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