Traumfrau (German Edition)
Jahre älter als noch vor wenigen Tagen.
Mary, sinnierte er, hatte ihn nicht, wie erhofft, größer und schöner gemacht. Langsam wurde sie in seiner Phantasie zu einem Racheengel, der in wunderschöner Verkleidung auf die Erde gekommen war, um die Sünder herauszupicken und sie ihrer gerechten Bestrafung zuzuführen. Sie hatten sich von ihrer Schönheit blenden lassen. Und nun saßen sie da im Schlamassel und kamen aus ihrem Würgegriff nicht frei.
Vorsichtig, Millimeter um Millimeter, zog er seinen Arm zurück. Immer wieder, wenn er glaubte, er sei schon fast frei, drohte sie, vornüberzukippen und wach zu werden. Oder sie griff plötzlich im Schlaf noch einmal nach und zog seinen Arm wieder zu sich heran.
Er suchte eine strategisch günstige Position. Vielleicht gab es die Möglichkeit, sie auf der Bank schlafen zu legen? Er musste behutsam vorgehen. Unendlich behutsam.
Schon stand der erste Zug nach Weierstadt abfahrtbereit. Er wollte sich zunächst einfach losreißen und in den Zug rennen.
Wenn ich ihre Überraschung ausnutze, dachte er, kann es klappen. Aber dann fuhr der Zug ohne ihn ab.
Inzwischen kniete er vor der Bank, und Mary lag darauf. Er hatte sich aus seinem Pullover gehäutet wie eine Schlange. Ihr Kopf lag nun auf dem zusammengeknüllten Teil, aber seine rechte Hand und sein Unterarm steckten noch, von Marys Händen gehalten, im Ärmel.
Er konnte sich nicht entschließen, die Hand mit einem Ruck herauszuziehen. Was, wenn sie hochschreckte? Aber langsam ging es auch nicht. Immer wieder fasste sie nach. Dass ein Mensch im Traum so wachsam sein kann, dachte er, so anhänglich. Wälzt sie sich nie herum? Hat sie im Schlaf kein anderes Bedürfnis außer diesem einen: mich festzuhalten?
Dass andere Leute stehen blieben und interessiert zusahen, Mutmaßungen anstellten, lachten oder verständnislos die Kopfe schüttelten, störte ihn schon lange nicht mehr. Er wollte nur noch seine Hand aus dem Pullover ziehen und dann ab in den nächsten Zug nach Weierstadt.
Seit gut einer Stunde musste er zur Toilette. Manchmal wurde der Druck übermächtig, er glaubte, gleich in die Hose machen zu müssen oder seine Blase würde platzen. Er bemerkte nicht, dass er weinte, als es ihm endlich gelang, ein zur Wurst zusammengerolltes Stück Pullover in ihre linke Hand zu schieben und dafür Zentimeter um Zentimeter seine Hand zu befreien.
Da ließ sie mit der anderen Hand von allein los. Knüllte den Pullover unter ihrem Kopf dichter zusammen und zog die Knie an den Körper. Aus Dankbarkeit hätte er sie fast geküsst. Vor Schreck über diese Dummheit sprang er auf, stand jetzt fast aufrecht, aber eben nur fast, weil sich seine Wirbelsäule mit einem hämmernden Schmerz für die lange unbequeme Haltung rächte.
Er hastete zum anderen Bahnsteig. Sekunden, bevor der Zug nach Weierstadt einlief, warf Wolfhardt Paul noch einen Blick auf Mary.
Plötzlich juckte jeder Zentimeter Kleidung auf seiner Haut. Er konnte sich nicht überall gleichzeitig kratzen. Vom Bauchnabel an abwärts wurde das Jucken zu einem Stechen, das erst nachließ, als der warme Urinstrahl an Wolfhardt Pauls Beinen herunterlief.
Die Rückfahrt wurde zu einem bargeldlosen Alptraum. Er sah aus wie ein frierender Penner, und genauso wurde er von allen behandelt. Um nicht aus dem Zug geworfen zu werden, schloss er sich, immer noch ohne Fahrkarte, auf der Toilette ein.
Er hatte gehofft, als Held nach Ichtenhagen zurückzukehren, auf seinem Trecker sitzend wie Ivanhoe auf seinem treuen Pferd.
Nun hätte er sich am liebsten unsichtbar gemacht. Der Trecker sah zwar aus wie ein Haufen Schrott, aber er sprang noch an. Wolfhardt Paul empfand den zerschlagenen Trecker als eine gerechte Strafe, und es war ihm längst egal, ob diese Strafe von einem Gott, dem Teufel, einer Schildkröte, einem Racheengel oder von Martin Schöller bestimmt worden war.
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„Damit du es weißt, Hans, ich gehe so oft mit ihr in Weierstadt essen, wie ich will! Sie wird meine Frau. Ich werde sie richtig legal ehelichen. Und das tue ich nicht für euch, sondern für sie und für mich. Wenn es uns Spaß macht, gehen wir mittags in Weierstadt im Chinarestaurant und abends in der Linde essen! Ich gebe dir jetzt dein Geld zurück und dann hältst du für immer den Mund. Nimmst du einen Scheck?”
„Oh nein. Ich nehme keinen Scheck. Du kannst dein blödes Geld behalten. Ja, heirate sie nur. Genauso war es besprochen. Aber ich habe meinen Anteil auf immer und ewig. Und ich werde ihn
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