Traumfrau (German Edition)
zu spät!”
Er stakste aus dem Haus, hin zur Kirche. Jetzt knurrte sein Magen.
Wie eine Marionette – von unsichtbaren Fäden geführt –stand, saß oder kniete er im genauen Rhythmus mit den anderen, ohne auch nur einen Gedanken darauf zu verschwenden. Nur an einem einzigen Sonntag in seinem Leben hatte er dieses Ritual versäumt. Damals lag er mit hohem Fieber im Bett.
Nicht weit von ihm entfernt, vorn im Kirchenschiff, blickten Hermann Segler und Frau gemeinsam in ein Gesangbuch. Niemand in Ichtenhagen entzog sich den sonntäglichen Kirchgängen. Selbst der heute von allen verachtete Udo Tiedemann, der das Haus seiner verstorbenen Eltern nicht in Ehren hielt, sondern an einen unanständigen Club verpachtet hatte, war, solange er in Ichtenhagen wohnte, jeden Sonntag hier anzutreffen gewesen. Martin Schöller schloss die Augen, was sehr andächtig wirkte, und genoss noch einmal die Worte von Wolfhardt Paul: Du bist ein Mordskerl!
Ein Mordskerl. Er – Martin Schöller.
Endlich fand er Anerkennung. Auch in der Skatrunde. Bei den alten Hasen. Obwohl er inzwischen Muskeln besaß wie kein anderer in Ichtenhagen, schreckte er manchmal im Schlaf hoch, weil er die gemeinen Rufe seiner Schulkameraden beim Staffellauf nicht mehr ertragen konnte:
„Schwabbell Schwabbel! Schneller, Schwabbel! Schwabb! Schwabb! Schwabb!”
Damals war jeder Sportnachmittag der reinste Horror für ihn gewesen. Er hatte einen Hintern gehabt wie zwei Sofakissen, einen dicken Bauch und dünne Ärmchen und auch im heißesten Sommer trug er weite Pullover, um seine Speckfalten zu verbergen. Aber unter der Dusche, nach dem Turnen, mussten alle nackt sein. Auch er. Daran ließ sich nichts ändern. Er hatte den massigsten Körper und den kleinsten Pimmel.
Allen sprossen dort schon die Haare, nur ihm nicht. Er empfand es als demütigend, mit den anderen turnen und schwitzen und duschen zu müssen. Er wollte aussehen wie die anderen und nicht mehr Schwabbel heißen, sondern Spitznamen haben wie sie. Wollte Tarzan, Flash Gordon, Ringo, Pille oder wenigstens Martin genannt werden. Auf keinen Fall aber Schwabbel.
Doch so sehr er sich auch Mühe gab abzunehmen, seine Mutter mästete ihn. Wenn er einmal keinen Nachschlag verlangte, wenn er nicht wenigstens zwei gehäufte Teller voll aß, glaubte sie gleich, es hätte ihm nicht geschmeckt. Was für sie bedeutete, dass ihr Sohn sie nicht mehr liebte. Sie hatte furchtbar schlechte Zeiten mitgemacht und tobte ihren ganzen Nachholbedarf an Martin aus. Manchmal fühlte er sich wie ihr Mastschwein, dann aber auch wieder sicher, geborgen und glücklich. Besonders nach seinen Niederlagen liebte er es, in der Küche zu sitzen und sich von ihr auf den Teller schöpfen zu lassen. Mit jedem Löffel fraß er ihre Liebe in sich hinein, und mit jedem Löffel wurde die Liebe größer. Wenn es ihm besonders schlecht ging, schaffte er sogar einen vierten Teller und zwei Portionen Mousse au chocolat oder Karamellpudding zum Nachtisch.
Sie saß bei ihm, sah ihm beim Essen zu, lobte, was für ein guter Sohn er sei und begriff nicht, wie unglücklich sie ihn machte. Manchmal steckte er sich nach solchen Fressorgien auf der Toilette einen Finger tief in den Hals und versuchte, alles wieder herauszuwürgen. Denn kaum war er so voll, dass nichts mehr hineinging, wusste er auch, dass er sich am nächsten Tag dafür hassen würde. Er wollte nicht Schwabbel sein, sondern Martin.
Sie wollte nur das Beste für ihn. Doch sie machte ihn fertig. Unter ihrer liebevollen Obhut wurde er von Tag zu Tag kleiner. Sie wollte ihn vor jedem Unheil beschützen und pflanzte damit tiefe Angst und Unsicherheit in ihn. Weil angeblich seine Knöchel nicht stabil genug waren und der Orthopäde davon abgeraten hatte, bekam er als Einziger keine Rollschuhe. Erst als alle Klassenkameraden, selbst die zwei Klassen unter ihm, Fahrräder besaßen, kaufte sein Vater ihm, gegen den Widerstand der Mutter, auch eins. Seitdem hatte sie angeblich keine ruhige Minute mehr, aus Angst „der Junge könnte unters Auto kommen”. Um ihn von Radtouren und von seinen Kameraden fernzuhalten, schlug sie ihm vor, lieber mit ihr fernzusehen, und versprach, seinen Lieblingskuchen zu backen. Butterkuchen mit ganz viel Streuseln drauf.
Er bemerkte nicht einmal, welches Kirchenlied er im Moment lauthals mitsang, so sehr nahmen ihn die Gedanken gefangen. Schweißperlen standen auf seiner Stirn.
Die anderen hatten ihn zum Paddeln mitgenommen. Dieter Segler, der Sohn von
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