Traumfrau (German Edition)
nicht fuhr, blieb ihm nur der Fußweg. Er hätte trampen können, aber das kam für ihn nicht in Betracht. Trampen war vielleicht spannend von einer Autobahnraststätte aus. Oder in der Großstadt, wo man in sehnsüchtiger Tramperromantik darauf hoffen konnte, interessante Leute kennen zu lernen. Zwischen Brens und Weierstadt aber waren die Chancen gering, jeder kannte jeden. Touristen gab es nicht, und sonntags spulte sich auch kein Berufsverkehr ab. Sogar der Club blieb sonntags geschlossen.
Er schritt weit aus. Ganz auf gleichmäßige Atmung konzentriert wie beim Bodybuilding, bemerkte er nicht, dass bereits nach dem ersten Kilometer Schweiß die Kleider am Körper festklebte.
Die schattenlose Straße führte schnurstracks zwischen den Feldern hindurch, die aussahen wie in der Sonne zum Trocknen ausgebreitete Handtücher. Dort unten, hinter der Baumschule am Rand der Tannenschonung, lag der Baggersee. Ihr Baggersee. Er konnte sich diesem See nicht nähern, ohne an den Tag der großen Steinschlacht zu denken. Er trat heftiger auf und schnaufte, als könnte er so den Ausgang der Steinschlacht nachträglich verändern.
Das Vergangene war nicht vergangen. Nicht für ihn. Im Gegenteil, es begleitete ihn. Hetzte ihn zeitweise.
Die Jungens aus Weierstadt hatten an diesem Baggersee nichts zu suchen. Ihr Anführer hieß Herbert Ruhland. Er hatte Hände, rau und groß wie ein Erwachsener und seine übermäßig langen Arme ließen ihn wie ein Gorilla aussehen. Wenn er die Schultern hängen ließ, reichten seine Hände fast bis zu den Kniekehlen. Wo er auftauchte, gab es Ärger. Er galt als streitsüchtig, hinterlistig und unfair. Ab und zu machte er mit seiner Bande Ausflüge von Weierstadt in die umliegenden Gemeinden. Für einen Tag oder länger beanspruchten sie dann einen Spielplatz, eine Rodelbahn oder einen von kindlicher Hand befestigten Staudamm in der Ichte. Manchmal ließ er sich bestechen. Mit Bonbons, Kaugummi oder Zigaretten.
Drachen zogen ihn und seine Bande geradezu magisch an. Wo auch immer sich einer in die Lüfte erhob, tauchte Herbert Ruhland kurze Zeit später auf. Dieter Seglers großer, sechsschwänziger, chinesischer Drache (ein Geschenk seines Großvaters) hatte es ihm besonders angetan. Schon zweimal war Dieter ihm entwischt. Eine Weile traute er sich gar nicht mehr, seinen Drachen steigen zu lassen, um Herbert Ruhland nicht anzulocken. Doch dann, an einem besonders schönen Ferientag mit idealen Winden, brachten sie den Drachen auf mehr als hundert Meter Höhe. Da erschien Herbert Ruhland mit seinen Leuten.
Die Jungs aus Weierstadt fackelten nicht lange, umzingelten ihre Opfer und Herbert verlangte freundlich grinsend, den chinesischen Drachen geschenkt zu bekommen. Dieter Segler weigerte sich auch nach der zweiten Ohrfeige standhaft, den Drachen rauszurücken. Da hielt Herbert plötzlich ein Taschenmesser in der Hand, griff nach der Leine des Drachens und drohte, sie durchzuschneiden. Mit Tränen in den Augen gab Dieter seinen Drachen her. Die Weierstädter zogen ab. Helga brüllte hinter ihnen her:
„Ihr seid gemeine, blöde Schweine!”
Sie wollte Dieter Segler über den Verlust hinwegtrösten, aber es gelang ihr nicht, und auch als Martin eine Runde Sahnebonbons austeilte, verzog sich Dieters Gesicht nicht. Sie schworen sich zurückzuschlagen, falls Herbert Ruhland und seine Weierstädter sich nochmal am Baggersee blicken lassen sollten. Udo behauptete gar:
„Von jetzt an herrscht Krieg.”
Zwei Tage später, als Martin zum Baggersee ging, um dort seine Freunde zu treffen, hörte er schon von weitem Helgas Schreie. Kein Zweifel, die Weierstädter waren hinter ihr her. Martin ließ sich ins Gras fallen, lag eine Weile vor Angst fast bewegungslos und robbte dann vorwärts, um im Schutz der Baumschule einen freien Blick auf den Baggersee zu bekommen.
Die Weierstädter waren zu sechst. Sie trieben Helga vor sich her. Sie schubsten sie, bewarfen sie mit Dreck und traten nach ihr.
Die Erinnerung reichte aus, dass Martin sich ans Herz fasste. Es pochte wie damals, wild und ungleichmäßig. Er verlangsamte seine Schritte und hatte Mühe, seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen. Damals hätte es ihn fast zerrissen. Einerseits wollte er ihr helfen. Wünschte sich nichts sehnlicher, als sich für sie zu prügeln, für sie geschlagen zu werden, ja, für sie zu bluten und zu Boden zu gehen. Andererseits fürchtete er, vor ihren Augen von den Weierstädtern gedemütigt zu werden. Vielleicht
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