Traumfrau (German Edition)
vor mir. Ich hab sie nicht eingeholt.”
Wolfhardt Paul erkannte den Bluff nicht. Aus seiner Nase lief schon wieder Blut. Er bemerkte es nicht einmal.
„Sollte man nicht die Polizei benachrichtigen?”, fragte Uschi Paul ängstlich ihre Tochter. Mit einer geringschätzigen Handbewegung spottete Bürgermeister Sendlmayr: „Polizei? Was sollen wir der denn erzählen? Dass vor Martin alle Frauen weglaufen?”
Er hatte, wie erwartet, die Lacher auf seiner Seite.
Martin Schöller ging zur Theke, und plötzlich standen dort die Männer des Dorfes Schlange, um ihm einen Schnaps zu spendieren.
Herr Schöller erhob sich, zupfte an der Jacke seiner Frau und flüsterte: „Lass uns jetzt besser gehen.”
Doch Frau Schöller konnte den Blick nicht von ihrem Sohn abwenden. So kannte sie ihn nicht. Unabhängig von ihr. Frei. Bewundert. Im Mittelpunkt. Seine Aufmerksamkeit wie Gunst verteilend.
Hier stimmt etwas nicht, dachte sie, hier ist etwas ganz und gar faul.
Am liebsten hätte sie Martin befohlen, mit ihr nach Hause zu gehen. Aber sie wollte ihm keine Gelegenheit geben, ihr zu widersprechen. Sie spürte, dass er es jetzt genießen würde, ihr laut und deutlich „Nein” zu antworten.
49
Kopfschüttelnd zog der Stationsarzt die Spritze auf. „Wie kann ein Mann in Ihrem Alter so unvernünftig sein?”
„Ich will ... ich muss ...”, stammelte Günther Ichtenhagen und versuchte sich im Bett aufzubäumen.
„Sie müssen gar nichts. Jetzt werden Sie erst mal schlafen. Alles andere hat Zeit. Nichts ist wichtiger als das Leben.”
Der Einstich der Nadel schmerzte Günther Ichtenhagen wie die Verletzung durch ein Messer. Er wollte nicht schlafen. Er hasste den Schlaf. Er wollte jung sein. Stark. Aktiv. Handlungsfähig.
Jetzt wurden sogar seine Füße warm. Die Hitzewelle breitete eine süße Gleichgültigkeit in ihm aus. Er war plötzlich für nichts mehr zuständig. Es war gar nicht so schlecht, sich dem Willen der Ärzte unterzuordnen. Sie nahmen jede Verantwortung von ihm. Die für sich selbst und damit auch die für Mary. Egal, was mit ihr geschah: Er war nun frei von Schuld. Mit diesem Gedanken dämmerte er ein.
50
„Sie muss weg. Weg! Weg! Weg!”
Wie eine Schallplatte mit Sprung wiederholte Wolfhardt Paul immer wieder diesen Satz. „Sie muss weg. Weg! Weg! Weg!”
Für Wolfhardt Paul, dessen Lebenszentrum immer in Ichtenhagen gelegen hatte, waren fünfzig Kilometer schon sehr weit weg. Köln oder Frankfurt geradezu aus der Welt.
Er wollte an keinem anderen Ort leben als in Ichtenhagen, konnte sich nicht vorstellen, dass es woanders für ihn einen Platz gab. Er las, wenn überhaupt, nur den Weierstädter Boten und davon nur den Lokalteil. Was außerhalb der Kreisstadt geschah, betraf ihn nicht. Keine Hungersnot, kein Erdbeben, kein Krieg und auch keine Filmpremiere.
Er besaß weder Auto noch Fahrrad, wohl aber einen alten Trecker.
Plötzlich trat jemand gegen seinen inneren Plattenspieler. Die Nadel hüpfte krachend ein Stück weiter, ratschte dann in Richtung Schlussakkord quer über die schwarze Scheibe und aus: „Sie muss weg. Weg! Weg! Weg!” wurde: „Ich werde sie freilassen. Freilassen ...”
Noch nie in seinem Leben hatte er etwas Wagemutiges getan. Er hatte alles vermieden, was von Sanktionen bedroht war, und versucht, keinen Gedanken nachzuhängen, die hätten gefährlich werden können. Er hatte sich bemüht, so zu sein wie die meisten Menschen seiner Umgebung, nicht aufzufallen und sich überall durchzuschummeln.
„Ich werde sie freilassen. Freilassen ...”
Jetzt klang es schon wie Orchestermusik. Fanfaren kündigten Gesang an. Trommelwirbel bestätigten die Ernsthaftigkeit der Worte: „Ich werde sie freilassen!” Geigen unterstrichen den Entschluss: „Ich werde sie freilassen!” Klarinetten kündigten den guten Ausgang an: „Ich werde sie freilassen!”
Wolfhardt Paul fühlte sich von seiner lähmenden Angst befreit. Ja, er würde es tun. Er würde sie befreien und damit sich selbst. Statt schuldig zu werden, flüchtete er in die Heldenpose.
Wie würde er nach vollbrachter Tat vor den anderen darstehen? Vorerst durften sie es nicht merken. Aber danach könnte er zu seiner Tat stehen, könnte sagen: „Jawohl, ich habe sie freigelassen. Ich, Wolfhardt Paul, der Bauer aus Ichtenhagen. Ich habe eurem grausamen Spiel ein Ende gesetzt. Was könnt ihr schon tun? Wollt ihr mich in Zukunft schneiden? Mit Verachtung strafen? Pah! Oder wollt ihr zur Polizei laufen, weil ich euer
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