Traumfrau (German Edition)
Eigentum geraubt habe?”
Einen kurzen Moment verspürte er Unsicherheit. Was man kaufen kann, das kann man auch stehlen. Konnten sie ihn anzeigen? Ihn verklagen, wenn er die Frau freiließ? Er war kein juristisch gebildeter Mann. Bisher hatte ihm sein Gefühl für Richtig, Falsch, Recht und Unrecht ausgereicht. Ohne jemals einen einzigen Gesetzestext gelesen zu haben, konnte er mit hoher Treffsicherheit sagen, was legal, was Recht und was Unrecht war. Dieses Gefühl tat gut. Es gab ihm einen groben Rahmen, in dem er sich gefahrlos bewegen konnte. Erst jetzt wurde ihm klar, wie tief sein Gerechtigkeitsempfinden erschüttert war. Vielleicht würde er noch heute zum ersten Mal im Leben bewusst eine strafbare Handlung begehen.
Er schüttelte den Gedanken von sich ab. Egal. Er würde sie freilassen. Noch heute.
Er besaß für diesen Monat noch zweiundachtzig Mark sechzig Taschengeld. Damit zahlte er üblicherweise seine Zeche in der Linde, den Rest verlor er beim Skat und in der Tippgemeinschaft. Er entschloss sich, das Geld Mary zu geben. Für ihren Start in die Freiheit brauchte sie schließlich ein paar Pfennige. In der alten Bibel steckte zwischen den vergilbten Seiten noch ein Hundertmarkschein, den er sich für besondere Fälle auf die Seite gelegt hatte. Uschi wusste nichts davon. Den Schein steckte er ein.
Er hatte einen Schlüssel. Er konnte ziemlich sicher gehen, dass Mary jetzt allein dort war. Aber wie sollte er sie aus dem Dorf bringen? Und wohin? Wenn sie erst weit genug weg ist, ist alles in Ordnung, dachte er und beschloss, sie nach Köln zu bringen. Von Weierstadt fuhr ein Zug nach Köln. Er kannte den Fahrplan nicht, wusste aber von diesem Zug, weil der Weierstädter Bote seit Jahren darüber berichtete, dass die Strecke stillgelegt werden sollte.
Er konnte sie schlecht mit dem Schulbus von Ichtenhagen nach Weierstadt bringen. Sie durften nicht zusammen gesehen werden. Es musste einen Weg geben, sie aus dem Dorf zu bringen, ohne dass jemand Verdacht schöpfte. Sollte er seine Tochter ins Vertrauen ziehen? Sie konnte Mary mit ihrer Ente nach Weierstadt fahren, ihr dort eine Fahrkarte kaufen und dann ...
Nein. Er musste das selbst tun.
Du solltest sogar bis Köln mitfahren, sagte er sich.
Die Vorstellung fand er abenteuerlich. Ohne Uschis Wissen würde er nach Köln fahren. Ein Gefühl grenzenloser Freiheit überkam ihn. Warum hatte er so etwas noch nie getan? Warum kümmerte er sich ständig um diesen Scheißbauernhof und nicht einmal um sich selbst? Bei dem Wetter konnte er draußen sitzen, ein Bier trinken und die Leute beim Einkaufen beobachten. Warum hatte er noch nie den Dom besichtigt? Noch nie in seinem Leben ein Steakhouse von innen gesehen? Warum erlebte er nichts mehr? War er zum Maulwurf geworden? Was hielt ihn hier in Ichtenhagen fest? Köln rückte plötzlich näher an Ichtenhagen heran.
Er koppelte den Holzkarren an den Trecker und belud ihn mit zersägten Baumstämmen. Er schichtete die Klötze so übereinander, dass in der Mitte ein Freiraum blieb. Es entstand eine Art Baumsarg, in den Mary hineinpasste. Von innen stützte er das wacklige Gebilde mit längeren Ästen ab.
Wenn ich langsam fahre und nicht zu tiefe Löcher in der Straße sind, müsste es gut gehen, dachte er. Schlimmstenfalls kriegt sie so einen armdicken Ast auf den Kopf, aber wenn sie sich vorsieht, wird schon nichts passieren. Jedenfalls kann sie so nicht entdeckt werden. Niemand würde Verdacht schöpfen. Ein Bauer, der mit seinem Trecker und seinem Anhänger querfeldein fuhr, erregte keinerlei Aufsehen. Er konnte sogar die Hauptstraße nach Weierstadt benutzen. Nicht einmal Uschi würde ihn fragen, warum. Sie interessierte sich schon lange nicht mehr für seine tägliche Arbeit.
Als er mit seiner Konstruktion zufrieden war, ging er ins Haus zurück und stellte sich an das Fenster, aus dem Uschi normalerweise das Dorf beobachtete. Ihr Fernglas lag auf der Fensterbank. Daneben ein Kissen mit selbst gehäkeltem Bezug. Der Bezug war schäbig und abgenutzt. Die Kuhlen im Kissen zeigten deutlich, wo Uschi sich zuletzt mit den Ellbogen aufgestützt hatte. Sie konnte stundenlang so bewegungslos sitzen und dem Kissen eine neue Form geben. Wolfhardt Paul hob das Fernglas an seine Augen und betrachtete Günther Ichtenhagens Haus. Die Treppe zum Balkon lag im toten Winkel und Uschi konnte sie von hier aus nicht einsehen. Er konnte Mary also gefahrlos nach unten bringen. Trecker und Anhänger passten seitlich neben das
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