Traumgespraeche
zu ziehen. Linda »erfand« in ihrem Traum die Idee mit den Büchern, um ihr Ziel zu erreichen. Sie zweckentfremdete diese, nutzte sie nicht zum Lesen sondern als Treppe, um ans Fenster zu kommen. Nun können Eltern Kreativität und Einfallsreichtum gezielt fördern, indem sie speziell dieses Verhalten würdigen: »Was, du hast also die Bücher dazu genutzt, um ans Fenster zu kommen - du bist ja richtig einfallsreich und kreativ!«
Doch nicht nur Lindas Idee mit den Büchern ist kreativ, der Traum enthält noch andere Kostbarkeiten, die ihr helfen, sich aus ihrer bedrohlichen Lage zu befreien. Vielleicht hat Sie Lindas Traumgeschichte ein wenig an das bekannte Grimmsche Märchen »Hänsel und Gretel« erinnert. Wie im Märchen stehen Linda und ihr Bruder plötzlich alleine da, doch schlimmer als im Märchen, muss Linda sogar ohne ihren Bruder klarkommen. Aber sie bricht keinesfalls hilflos zusam-men
wie man meinen könnte, sondern verfügt offensichtlich über genug innere Stärke, um ihre Lage zu akzeptieren. Linda scheint also mit Stresssituationen gut umgehen zu können - eine Kompetenz, die heute auÃerordentlich wichtig ist. Das zeigt sich auch darin, dass sie sich von ihrer Angst, die sie durch die Dunkelheit in der Burg verspürt, keineswegs überwältigt, sondern eher herausgefordert fühlt. Angst kann in vielen Fällen auch lähmen und handlungsunfähig machen. Linda aber geht recht offensiv vor, blickt gezielt nach oben in Richtung des hell erleuchteten Fensters und fasst den Entschluss, dorthin zu gelangen. Dabei lässt sie sich von dem hellen Schein durchs Fenster inspirieren und schöpft daraus die nötige Kraft. Linda konzentriert sich also auf denjenigen Aspekt, der Hoffnung und Zuversicht verspricht. Ihr Vorgehen zeugt von Willensstärke und Selbstvertrauen. Es ist durchaus nicht selbstverständlich, sich in einer bedrängenden Situation so zu verhalten. Oft sehen wir nur das, was stört und behindert - von einem kleinen Hoffnungsschimmer versprechen wir uns nicht viel. Ist es nicht für Eltern und Kinder ein erhebendes Gefühl, solche Schätze, wie wir sie in Lindas Traum entdecken konnten, aus dem Dunkel ins Licht zu holen?
Wunschträume oder mehr?
»Ich hab geträumt, dass ich mit dem funkelnagelneuen Fahrrad, das ich mir schon lange wünsche, in einem supertollen Vergnügungspark war.« Bei solchen
Traumgeschichten denken wir allzu schnell, dass Kinder mit ihrem Traum nichts anderes mitteilen als das, womit sie uns ohnehin Tag für Tag in den Ohren liegen. Was sollte näherliegen als die Annahme, dass Kinder sich auch nachts mit ihren materiellen Wünschen beschäftigen? Sie träumen davon, dies oder jenes zu besitzen oder zu unternehmen, was sie sich im Wachleben so sehnlich wünschen. Doch selbst wenn so manche Traumhandlung durchaus von solchen Wünschen inspiriert ist, gehören sie nicht zu den entscheidenden Elementen des Traums. Zentral ist eben nicht die kurzlebige Zufriedenheit, die sich einstellt, weil man endlich das heià ersehnte neue Fahrrad in der Hand hält. Fast immer geht es um tiefer liegende Fragen und Bedürfnisse, die Kinder im Traum bewegen. Und über die erfahren Eltern viel seltener etwas als über die tausend Wünsche, die Kindern so leicht über die Lippen gehen.
»Alle in meiner Klasse haben einen Gameboy - nur ich nicht.« Solche Sätze bekommt man als Mutter und Vater früher oder später fast immer zu hören. Kinder wollen einen dann oft davon überzeugen, dass man bestimmte Dinge einfach haben muss, weil man ansonsten nur allzu leicht zum AuÃenseiter wird. Ob es nun um das neue Computerspiel, die brandneuen teuren Schuhe, oder den Zeichentrickfilm geht, der nach der vereinbarten Kinderserie noch kommt - viele Kinder stellen die Eltern mit ihrem andauernden Wollen und immer neuen Wünschen auf eine harte Probe. Eltern fällt ihr Nein, von dessen Richtigkeit sie im Grunde überzeugt sind, häufig schwer, denn die Kleinen
tragen ihre Anliegen meist so sehnsüchtig und überzeugend vor, dass man Angst hat, mit diesem Nein ihr Lebensglück zu gefährden. Doch tief im Inneren wissen Eltern, dass dauerndes Nachgeben gefährlich ist. Was Kinder wollen, ist nicht dasselbe wie das, was sie wirklich benötigen. Der Familientherapeut Jesper Juul formuliert dies so: »Kinder wissen nicht, was sie brauchen; sie
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