Traumjäger (German Edition)
träumte doch meist viel länger. „Ja, eine Stunde nach dieser Uhr. Aber schau dir den Sekundenzeiger genau an!“
Ich beobachtete den leuchtenden, blauen Zeiger. Ganz langsam tickte er, fast unmerkbar. Tick, Tick, vor, Tack, zurück. Zurück? Verdutzt schaute ich Tom an.
„Ja. Die Zeit in Träumen vergeht anders als die normale Zeit. Das hast du mit Sicherheit auch schon gemerkt. Wann immer jemand träumt, zeigt eine Uhr in diesem Raum die Traumzeit an. Und die Zeit dauert eben genauso lange wie die Träume. Da ist sie sehr flexibel.“
Ich betrachtete die vielen verschiedenen Uhren. Ganz schön viele Zeiger leuchteten in roten, blauen und grünen Farben, wenn sie in der Traumzeit tickten. „Es ist wunderbar!“, strahlte ich Nicky an.
Dann fiel mir eine lange, fein geschmiedete Goldkette auf, die an einem kleinen Nagel an der Wand hing. Es war die Kette einer Taschenuhr, aber die Uhr fehlte. Ich nahm die Kette vorsichtig in meine Hände. „Wo ist die Uhr? Was ist damit passiert?“, wollte ich wissen. Tom und Nicky wurden ernst. Sie schauten sich bedeutungsvoll an. Tom nahm mir behutsam die Kette aus der Hand und betrachtete sie lange und schweigsam. Schließlich sagte er mit ernster Stimme: „Du hast Recht. Hier gehörte einmal eine Uhr dran. Die wertvollste Uhr überhaupt! Nach dieser einen Uhr sind alle Uhren in diesem Raum gestellt. Du musst wissen, die Uhren hier sind alle abhängig voneinander und besonders von der einen . Geht sie nicht mehr, funktionieren die anderen bald auch nicht mehr. Sie sind durch die Träume miteinander verbunden. Die Aufgabe des Traumhüters ist, die Uhren instand zu halten und die Traumzeit zu wahren.“
„Was passiert, wenn die Uhren stehen bleiben?“, wollte ich wissen. Toms Gesicht wurde noch ernster und sehr traurig. Fast bereute ich die Frage, denn ich wollte ihn nicht bekümmern. Doch was er dann sagte, bekümmerte auch mich: „Dann, Andy, dann gibt es keine Träume mehr. Wenn keine Zeit für Träume bleibt, dann sterben sie. Dann haben wir eine triste, farblose Welt ohne Träume. So wie die Traumlosen.“
„Die Traumlosen?“, fragte ich, und dann, leise, als Tom nicht reagierte: „Wo ist die Uhr?“
Tom seufzte tief, und Nicky wandte sich leicht ab.
„Ich habe sie verloren.“, sagte er mit leiser Stimme.
„Was?“
„Ich habe sie verloren. Ja.“
Tom brachte die Kette zurück an ihren Platz. „Komm mit, Andy. Wir haben genug gesehen für heute.“
Er nahm meine Hand und führte mich aus dem Raum. „Danke Nicky. Lieb von dir, dass du dir Zeit für uns genommen hast!“, rief er ihr über die Schulter zu. „Auf Wiedersehen Nicky!“, rief ich. Sie lächelte. „Es hat mich gefreut.“
Kapitel 11
Die Traumlosen
I n Toms Zimmer setzten wir uns in seine bequemen, weichen Sessel. „Ich weiß, was du denkst, Andy.“, sagte Tom. Er wirkte müde. „Du willst die Geschichte hören, wie ich die Uhr verloren habe. Aber ich bin mir nicht sicher, ob du schon bereit bist, von den Traumlosen zu hören. Denn sie sind Teil der Geschichte. Und sie sind es selbst jetzt noch, denn die Geschichte ist noch nicht zu Ende.“ Tom konnte nicht wissen, dass auch ich bereits Teil der Geschichte war. Nur mich beschlich die leise Ahnung, dass ich schon jetzt nicht bloß von den Traumlosen gehört, sondern sie sogar mit eigenen Augen gesehen hatte.
„Du musst mir nichts erzählen, wenn du nicht willst, dass ich davon weiß.“, hörte ich mich gegen meinen Willen sagen. Und ob ich die Geschichte hören wollte! Ich brannte darauf!
Tom ließ seine Augen wortlos durchs Zimmer schweifen. Er rang mit sich, das konnte ich sehen. Blitzartig kam mir ein Gedanke, eine Frage, die ich ihm schon beim ersten Besuch hatte stellen wollen. Vielleicht war nun der richtige Zeitpunkt dafür.
„Sag mal, Tom“, begann ich zögernd, „was war das eigentlich für ein Falke, den du mir geschickt hast, als du mich zum ersten Mal eingeladen hast? Er war so… so wunderschön!“
Tom blickte erstaunt auf. „Ein Falke? Ich habe dir keinen Falken geschickt, Andy! Nur einen Zettel.“
Nun war ich erst recht verblüfft. Stets hatte ich angenommen, dass der leuchtende Falke der Überbringer von Toms Nachricht gewesen war.
„Aber sie kamen doch gleichzeitig, der Zettel und der Falke. Und er hat so gestrahlt, Tom, heller als Licht!“
„Heller als Licht?“ Tom horchte auf und betrachtete mich eindringlich. Ich nickte. Er besann sich kurz, dann sagte er langsam: „Du warst also
Weitere Kostenlose Bücher