Traumjäger (German Edition)
beide in der Hand. Keiner wollte loslassen. Es war furchtbar! Dann – dann kam der Blitz.“ Für einen Moment meinte ich, dass Tom mich an dieser Stelle merkwürdig ansah. Wusste er, dass ich den Blitz gesehen hatte? Wenn er es wusste, ließ er es sich jedoch nicht anmerken, denn er sprach unbeirrt weiter.
„Der Blitz kam, und die Uhr flog durch die Luft. Dann war ich wieder hier, in diesem Zimmer. Aber ich glaube nicht, dass es den Traumlosen gelungen ist, die Uhr zu bekommen. Schließlich gibt es ja noch Träume. Die Uhr muss noch irgendwo sein! Irgendwo…“
Ich spürte, wie meine Hand das glänzende Metall in meiner Tasche fest umklammerte.
„Erzählst du mir die ganze Geschichte, Tom?“, bat ich. Doch Tom schüttelte müde den Kopf. „Nein. Ich habe dir heute genug erzählt. Mehr als ich eigentlich wollte. Vielleicht ein anderes Mal, in Ordnung?“
Ich spürte, dass es für mich an der Zeit war, zu gehen. „Danke, Tom.“, sagte ich. „Danke, dass du mir das Uhrenzimmer gezeigt hast. Nicky ist echt toll!“
Kapitel 12
In der Falle
E s war ein heiterer Tag. Doch meine Gedanken waren getrübt von dem, was ich in der vergangenen Nacht in Erfahrung gebracht hatte. Beinahe mechanisch lief ich hinter meinen Eltern auf den langen Deichen entlang und konnte es nicht lassen, an die Traumlosen zu denken.
Das also waren die schwarzen Gestalten mit den leeren Augen. Sie konnten nicht träumen. Aber ich konnte es, und deshalb waren sie hinter mir her. Wirklich nur deshalb?
Ich zog die kleine Uhr aus der Tasche und betrachtete sie nachdenklich. Sollte es tatsächlich die Uhr sein, die eine ? Hatte ich sie gefunden? Das wäre aber schon ein gewaltiger Zufall, oder? Und doch – der helle Blitz, zwei kämpfende Gestalten in der undurchdringlichsten Dunkelheit… Ich ließ die Uhr durch meine Hand gleiten. Hatte sie auch eine Stunde für die Traumzeit, hatte sie 13 Ziffern? Wenn sie sich doch nur öffnen ließe! Es war vergebliche Mühe. Sie schwieg, hütete treu ihr Geheimnis.
Jeder will sie haben, sie ist das Herzstück der Träume! Jeder will sie haben… Das hatte Tom gesagt. Wollte ich sie deshalb nicht hergeben? Wollte ich sie deshalb nicht verraten? War auch ich ihrem Bann erlegen?
„Andy, kommst du endlich? Du bist heute schrecklich langsam! Was trödelst du denn so?“, trieben mich meine Eltern an. Sie waren schon ein gutes Stück voraus gelaufen. Doch wenn man nachdenkt, dann kann man einfach nicht so schnell gehen. Das habe ich schon oft gemerkt, und vielleicht kennt ihr das ja auch. Neulich habe ich mit Tom darüber diskutiert. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass sich wohl die Beine dem Schritt der Gedanken anpassen. Oder andersherum. Egal. Es läuft auf dasselbe heraus.
„Ich komm ja schon!“, rief ich. Hastig steckte ich die Uhr wieder in meine Hosentasche – ich wollte nicht, dass meine Eltern Fragen stellten – und beeilte mich, aufzuholen. Der Wind blies heute sehr kräftig und rötete mein Gesicht. Zwar wollte ich noch länger über Toms Gespräch nachdenken, aber der Wind pustete plötzlich meine Gedanken so frei, und ich genoss einen herrlichen Tag am Meer.
Erst nach dem Abendbrot, als ich wieder allein in meinem Zimmer auf dem Bett lag, kamen die Gedanken zurück. Alle, und zwar auf einmal. Ja, ich war mir fast sicher, dass es Toms Uhr war, die ruhig und verschlossen in meiner Tasche tickte. Es konnte nur so sein. Und wenn es so war, dann wusste ich ja, was ich zu tun hatte. Tom war doch mein Freund. Das hatte er sogar selbst gesagt.
Ich hatte endlich einen Freund!
Und Freunde betrügt man doch nicht! Natürlich hätte ich die Uhr gerne behalten, aber wenn es Toms Uhr war, dann musste ich sie ihm geben! Ja, ich würde ihm die Uhr zurückbringen. Bald. Nein, gleich. Ich würde ihn einfach überraschen! Tom liebte Überraschungen. Wie würde er staunen, wie würde er sich freuen…
Ganz deutlich und gestochen klar erschien mir das Uhrenzimmer vor dem geschlossenen Auge. Das Gedankenbild kam so plötzlich! Ja, wenn ich nun zurückdenke, drängte sich mir das Bild regelrecht auf. Da es aber genau der Ort war, zu dem ich wollte, und da ich so aufgeregt war, Tom eine Freude zu machen, war ich unvorsichtig und gab dem Traum nach.
***
Ich fand das Uhrenzimmer genauso vor, wie ich es in der vorherigen Nacht gesehen hatte. Überall hingen, standen, lagen die tickenden Traumzeitmesser. Die Taschenuhren, Armbanduhren, Wanduhren, Standuhren… Manche Zeiger leuchteten
Weitere Kostenlose Bücher