Traumjaeger und Goldpfote
singende Menge. Sogar Heulsang hatte verzückt den Kopf zurückgeworfen und die Augen geschlossen. Raschkralle saß neben ihm und lauschte in respektvollem, ehrfürchtigem Schweigen. Von überallher stiegen die gezischelten Melodien des Höheren Gesanges auf und schwebten in der Nachtluft.
Wenn die Finsternis
Sanft uns ruft,
Wenn der Tag zu Ende ist
Zur Gänze,
Werden wir alles hingeben,
Wie es sich ziemt,
Doch nur, wenn Windweiß
Es uns heißt …
Etwas an diesem Lied störte Fritti. Viror Windweiß war sehr tapfer und schön gewesen, doch seit den frühesten Tagen war er verschwunden. Das Lied jedoch sprach von dem Erstgeborenen, als könnte man ihn riechen oder sehen. Er blickte auf alle diese ernsten, hochgereckten Gesichter, und ihn schauderte. Das Lied war zu Ende.
Taupfote überschaute das Meer von Ohren, Barthaaren und leuchtenden Augen, das sich vor ihm dehnte, und begann zu sprechen.
»In dieser geheimnisvollen Nacht, da wir des Opfers von Viror Windweiß gedenken, möchte ich von einer anderen Katze reden, und ihrem Leid vor langer, langer Zeit.« Die Stimme des Prinzgemahls war leise und angemessen, und sogar die Rüpel in der ersten Reihe lauschten ihr.
»Prinz Neunvögel wurde vor langer Zeit von Windweiß’ Bruder, Tangalur Feuertatze, bestraft. Missgestaltet und in jenes Wesen verwandelt, das wir
M’an
nennen, wurde er in die Welt hinausgestoßen, um als Strafe für seinen Hochmut dem Volk zu dienen. Und er litt. Zu Recht? Vielleicht.
Durch ungezählte Geschlechter haben seine Abkömmlinge unseren Vorfahren gedient, sie verehrt und für sie gesorgt. Im Laufe der Zeiten kamen sich das Volk und die
M’an
näher. Viele aus dem Volk wurden davon abhängig, dass die
M’an
ihnen die Dinge beschafften, die wir, das Volk, uns immer selbst beschafft haben.«
Diese Rede fesselte Fritti. Zitterkralle hatte gesagt, der Einfluss der
M’an
sei am Sitz von Harar spürbar – Taupfote schien sich vor all diesem Volk, das zur Feier versammelt war, damit zu befassen.
»Viele, die heute leben, sagen, das Volk sei schwach geworden«, fuhr Taupfote fort, »dass viele von uns dahin gekommen seien, sich so sehr auf diese sonderbaren, haarlosen, aufrecht gehenden Katzen zu verlassen, als seien sie unsere eigenen Eltern. Manche sagen, darin offenbare sich ein Verfall, eine Krankheit inunseren Leben. Ich bin dessen nicht so sicher.« Taupfote heftete seinen unergründlichen Blick auf das Volk.
»Worin bestand Neunvögels Sünde? Im Stolz. Nun, jeder aus dem Volk ist stolz, das versteht sich. Sind wir nicht die Krone, die eigentliche Schwanzspitze der Schöpfung? Kennen wir nicht von allen Lebewesen den verwickelten Tanz der Erde am besten? Ist das nicht Grund genug, stolz zu sein? Vielleicht. Doch war es nicht der Stolz von Kaltherz, sein leidenschaftliches Verlangen, sich zum Herrn über alle zu machen, was zum Tod von Viror Windweiß führte? Muss die Musik der Welt nicht für immer seine reine, lichte Stimme entbehren?
Vielleicht kann uns
M’an
, dieses klägliche, übergroße Tier, das sich mit seinen Artgenossen in dünnwandigen Wespennestern zusammendrängt, das ohne Tatzen und Fell durch die Welt geht, vielleicht kann uns diese Zielscheibe unseres Spottes etwas lehren?«
Die Zuschauer wurden unruhig, wenn auch die Achtung vor Taupfotes hoher Stellung Schweigen gebot. Viele steckten die Köpfe zusammen und tuschelten.
Traumjäger dachte darüber nach, was Taupfote gesagt hatte. Es rührte an eine feine, bittere Saite in seinem Inneren wie ein Hauch von Fäulnis. Jedoch auch Raschkralle schien hingerissen. Heulsang verrenkte sich den Hals – nicht um zu lauschen, sondern um nach Freunden Ausschau zu halten.
»… wenn wir nämlich in unserem Stolz«, fuhr Taupfote fort, dessen schräge Augen vom widergespiegelten Licht glitzerten, »wenn wir also von diesen niedrigsten aller Lebewesen aufgenommen und gefüttert werden, wer will dann sagen, dass es nicht zu unserem Besten ist? Vielleicht ist es die Absicht der Urmutter, dass wir, die stolzen Jäger, Bescheidenheit lernen sollen …«
Plötzlich sprang Heulsang auf. »Harar!«, wisperte er aufgeregt. »Das habe ich ja ganz vergessen! Mein Lehrer, Mausenag, muss heute Nacht eine der alten Geschichten singen, und ichmuss ihm beim Üben helfen! O je! Vergebt mir, ihr zwei, aber ich muss mich sputen. O Himmeltanz, er wird mir die Nase abbeißen!« Ohne auf eine Antwort zu warten, sprang er über die hingelagerten Gestalten und hüpfte davon.
Als
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