Traumkristalle
Kindereien, keine Mißgriffe, keine Überbürdung – ideale Zustände! Warum kann ich nicht bis dahin – vielleicht – Urlaub nehmen – komisch – daß mir das noch nie eingefallen ist – sehr komisch – ich muß doch einmal fragen – Hat es nicht eben geklopft? … Ach, Sie sind es, Herr Kollege Voltheim – das ist ja sehr nett! Eben dachte ich an Sie. Sie sind schließlich der Mann der Erfindungen. Kennen Sie nicht eine Einrichtung, die das Unterrichten – wie soll ich sagen? – modernisiert, vereinfacht – hm –“
„Nun, ich dächte doch“, erwiderte Voltheims Stimme, „unsere Fernschule sei eine ganz vorzügliche Einrichtung.“
„Fernschule? Warum sehen Sie mich so – so seltsam an, Herr Kollege? Ich bin nur etwas ermüdet – bitte, nehmen Sie doch Platz.“
„Ich weiß wohl, Ihre Unterrichtsstunde wird gleich beginnen, aber ich hoffe, Sie dabei nicht zu stören.“
„Heute? Mich? Nein, natürlich nicht. Mir ist so eigen zu Mute, ich habe wohl etwas Kopfschmerz. Was haben wir denn für einen Tag?“
„Den achten Juli 1999, Herr Naturrat.“
„So, so – ganz recht. Hm! Ich dachte nur eben – Naturrat – Sie müssen doch immer Ihre Späßchen machen.“
„Das ist nun einmal Ihr Titel als Fernlehrer der Geographie am 211. telephonischen Realgymnasium. Aber hören Sie nicht? Es klingelt. Die Schüler haben ihren Anschluß genommen. Sie können beginnen.“
Frister gab sich Mühe, seinem Kollegen ins Gesicht zu sehen, aber die Züge verschwammen vor seinem Blick. Er vernahm ein leises, melodisches Rasseln, ohne sich erklären zu können, woher es kam. „Das ist gewiß so ein Witz von Voltheim“, dachte er. „Nun gut, ich will ihn nicht stören. Wir werden ja sehen, was er vorhat.“ Und lachend sprach er: „Lieber Herr Kollege, ich bin ja jetzt gar nicht vorbereitet, auch weiß ich überhaupt nicht, was Sie mit der Fernschule meinen.“
„O, ich bitte Sie, Herr Naturrat“ – so hörte er deutlich Voltheim wieder reden – „jetzt wollen Sie mich ein wenig aufziehen. Sie haben ja gestern schon Ihren Vortrag für heute in den Phonographen gesprochen. Und über die Fernschule haben Sie bereits im Jahre 1977 eine Broschüre geschrieben. Sie erinnern sich doch?“
„Bin dazu wirklich nicht imstande.“
Voltheim lachte deutlich. „Nun, dann passen Sie auf“, sagte er. „Sie sehen doch drüben an der Wand die eigentümliche Gemäldegalerie?“
Frister blickte auf. Er war höchlichst erstaunt. In der Tat, an der Wand, wo sonst ein Bücherregal stand, befanden sich einige dreißig rechteckige Rahmen. Aber die Bilder darin waren lebendig. Junge Leute zwischen sechzehn und neunzehn Jahren streckten sich da in bequemer Haltung jeder auf einem Lehnsessel. Und wahrhaftig, das waren ja seine Primaner, wenn auch in ungewohnten Anzügen. Das war sein Primus, dessen glattgeschorener Kopf kaum hinter seiner Zeitung hervorguckte. Und der Meyer rauchte sogar gemütlich seine Zigarre. Andere kauten an ihrem Frühstück.
„Ich möchte wahrhaftig glauben, dort meine Schüler zu sehen“, sagte Frister. „Sehr interessant! Wenn ich nur wüßte, was das bedeutet. Sollte ich etwa wirklich ein Jahrhundert Urlaub gehabt haben? Nehmen Sie das einmal an, Herr Kollege, und sprechen Sie zu mir, als schrieben wir heute tatsächlich das Jahr 1999, ich aber hätte momentan mein Gedächtnis verloren.“
„Sehr gern, Herr Naturrat, wenn Ihnen das Spaß macht. Diese jungen Leute bilden allerdings die Oberprima des 211. Fernlehrrealgymnasiums. Sie befinden sich nämlich in Wirklichkeit nicht etwa in einem Klassenzimmer, sondern die meisten von ihnen sitzen in ihren eigenen Wohnungen, gerade so wie Sie selbst. Nur wo die Eltern nicht die Mittel haben, den gesamten Fernlehrapparat im Hause unterzubringen, begeben sich die Schüler zu den dazu eingerichteten öffentlichen Fernlehrstellen. Die jungen Leute wohnen, wie Sie wissen, an den verschiedensten Stellen unseres Vaterlands, denn der Fernlehrverkehr läßt sich bis auf tausend Kilometer und mehr ausdehnen.“
„Ich weiß wirklich gar nichts, Herr Kollege. Sprechen Sie nur weiter. Während meines Urlaubs muß die Technik großartige Fortschritte gemacht haben.“
„Das will ich meinen! Nicht nur der Fernsprecher, sondern auch der Fernseher sind so vervollkommnet worden, daß man mit den Worten des Redenden zugleich seine Gestalt, seine Bewegungen, jede seiner Gebärden aufs deutlichste wahrnehmen kann. Nun ist es natürlich nicht mehr nötig,
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