Traumlos, Band 1: Im Land der verlorenen Seelen (German Edition)
schlimm.«
Hailey entspannt sich ein wenig. Diese Tradition erklärt zumindest den skurrilen Eindruck, den das Gebäude von außen macht. Wolf nimmt direkt neben seinem Onkel Platz.
»Setzt euch doch«, fordert der Hausherr seine fremden Gäste auf. Diese kommen der Bitte gerne nach und lassen sich auf den Stühlen nieder. »Habt ihr Hunger?«
Sie verneinen gleichzeitig, was ihm ein leises Lachen entlockt.
»Na dann. Was bringt euch zu mir?«
Alle Augen richten sich auf Wolf. Es wurde einstimmig beschlossen, dass er das Reden übernehmen soll. Er räuspert sich.
»Onkel, es gibt etwas, das ich dir unbedingt sagen muss. Ich bitte dich, mir zuzuhören. Ich wäre nicht hier, wenn meine Worte eine Lüge wären und das weißt du.«
»Ach Friedolin, du konntest mich noch nie belügen. Ich merke dir an, wenn du flunkerst. Erinnerst du dich noch daran, als du meine Kekse aufgegessen hast und es nicht gestehen wolltest, bis ich dir sagte, dass ich die Wahrheit schon kenne? Ich sehe es einfach in deinen Augen, denn ich kenne dich schon lange.«
»Dieses Mal geht es nicht nur um Kekse, Onkel.«
»Nur um Kekse?«, braust er scherzhaft auf. »Ihr müsst wissen, diese Kekse waren mit Schokostückchen und ...«
Hailey kichert. Es tut gut, sich für einige Sekunden der witzigen Art dieses Mannes hinzugeben. Fast fühlt es sich an, als würde sie zu dieser Familie gehören.
»Kann ich noch etwas bringen?«
Die Stimme der Geprägten vertreibt dieses Gefühl der Geborgenheit schlagartig. Als der Hausherr abwinkt, verschwindet sie wieder genauso lautlos, wie sie gekommen ist.
»Also Friedolin, erzähl mal. Was hast du wieder ausgefressen?«
Der schalkhafte Ausdruck schwindet mit jeder Silbe, die Wolfs Lippen verlässt, mehr von seinem dicken Gesicht. Wolf gibt sich keine Mühe, irgendetwas schönzureden. Schonungslos erzählt er alles: Von Haileys Traumlosigkeit über ihren Klinikbesuch und der Flucht bis hin zu Jules Forschungsergebnissen.
Der Mann sitzt still da, die Stirn nachdenklich in Falten gelegt und den Blick in weite Ferne gerichtet. Manchmal sieht er seinem Neffen intensiv in die Augen, um kurz darauf wieder einen entfernten Punkt zu fixieren.
»Ihr seid aber nicht nur zu mir gekommen, um mir diese Ungeheuerlichkeit zu berichten, oder? Was erwartet ihr jetzt von mir?«
Hailey schüttelt überrascht den Kopf.
»Sie glauben uns? Einfach so?«
Wolf sieht sie warnend an, aber sie ignoriert ihn.
»Wie gesagt: Friedolin ist ein schlechter Lügner.«
»Sie nehmen einfach so hin, dass Ihre Regierung die ganze Menschheit belogen hat?« Entsetzt springt Hailey auf, als ihr ein Gedanke kommt. »Sie wussten es! Sie sind ein Regierungsmitglied und Sie wussten es!«
Stolpernd weicht sie zurück. Auch Jules und Macy erheben sich langsam.
»Wieso haben wir nicht gleich daran gedacht? Ich dachte, dass die Familie Keisar allein dahintersteckt. Aber nein: Alle Großwächterfamilien sind involviert!« Haileys Stimme überschlägt sich vor Angst.
»Beruhige dich Hailey! Mein Onkel hat bestimmt nicht ...«, setzt Wolf an.
»Tatsächlich wusste ich nichts davon«, erklärt der beleibte Mann. »Allerdings habe ich mich schon länger über die Regierung gewundert. Wie ihr an meinem umgestalteten Raum seht, bin ich nicht gerade jemand, der Traditionen verteidigt. So wollte ich beispielsweise neue Träume erstellen lassen, damit wir nicht auf diese beschränkten Ressourcen angewiesen sind. Wusstet ihr, dass es gerade mal zweitausend verschiedene Träume gibt? Hundert davon sind Albträume. In gerade mal zwanzig Träumen kommt Essen vor. Ist das nicht ein Skandal? Bei dreihundertfünfundsechzig Tagen im Jahr hat man also alle fünfeinhalb Jahre den gleichen Traum. Wisst ihr, wie selten ich von Schweinesteak träumen darf? Und das, obwohl ich ein von Wolfstein bin! Dass mir dieser Wunsch ausgeschlagen wurde, hat meine Meinung über die Regierung geändert.«
Haileys Mund klappt auf. Dieser Mann ist so sehr auf Essen fixiert, dass sie ihm diese abstruse Geschichte sofort abkauft.
»Was genau wollt ihr jetzt tun?«, wendet er sich an Hailey.
»Mein Freund wurde gefangengenommen. Wir wollen ihn befreien. Als Hinweis habe ich nur einen Zettel, auf dem steht, dass ich in die Festung kommen soll.«
»Aber wir werden sie auf keinen Fall einfach ausliefern«, wirft Macy ein und reckt das Kinn empor.
»Das sollt ihr auch gar nicht.« Bedächtig greift er nach einer Serviette und wischt sich daran die wulstigen Finger ab. »Wie war
Weitere Kostenlose Bücher