Traumlos, Band 1: Im Land der verlorenen Seelen (German Edition)
betrachtet seine Silhouette noch einen Augenblick, dann wendet sie sich schweren Herzens ab. Das Blut rauscht laut in ihren Ohren und ihre Hände zittern.
Für einen kurzen Augenblick schließt Hailey die Augen und atmet tief durch. Sie nimmt all ihren Mut zusammen und klopft sie gegen das Metall. Das dumpfe Pochen hallt in ihren Ohren nach.
Nach wenigen Augenblicken, die Hailey wie eine Ewigkeit vorkommen, öffnet sich die Tür einen Spaltbreit.
» Er erwartet keine Gefahr, weil wir uns im Stockwerk der Großwächterfamilien befinden« , denkt Hailey belustigt.
Sie ruft sich noch einmal das Gesicht ihres Vaters ins Gedächtnis. Seine grünen Augen, die schwarzen Haare, den liebevollen Ausdruck mit dem er Eleonore betrachtete. Hailey stellt sich vor, dass er auch sie so angesehen hat. Sie erinnert sich daran, dass er nur für sie gestorben ist, und sammelt all ihren Mut. Mit einem letzten Atemzug stößt sie die Tür auf. Ein angenehmer Geruch weht ihr entgegen. An der Wand stehen Bücherregale, davor ein Schreibtisch. Ein Mann, den Hailey auf Ende Dreißig schätzt, sitzt gelassen über einem Buch gebeugt da und blickt nicht auf. Seine schwarzen Haare glänzen wie frisch gewaschen.
»Ja bitte?«
Seine Stimme klingt kühl und distanziert.
»Hallo«, bringt Hailey erstaunlich kräftig hervor. »Sie wollten, dass ich bei Ihnen erscheine?«
Der Mann hebt den Kopf. Für einen kurzen Augenblick glaubt Hailey so etwas wie Verwirrung in seinen tiefblauen Augen erkennen zu können, dann legt sich seine Stirn in Falten.
»Tut mir leid, daran kann ich mich nicht erinnern. Hier haben nur die Großwächterfamilien Zutritt. Bitte gehen Sie freiwillig, oder ich muss die Wächter rufen«, erwidert er leichthin und rückt seine Brille zurecht. Hailey schnappt verblüfft nach Luft.
»Sie haben meinen Freund entführt und eine Nachricht zurückgelassen, dass ich ihn nur wiedersehe, wenn ich zu Ihnen in die Festung komme.«
»Stand mein Name darunter?«
Die Frage irritiert Hailey. Seine Gesprächsführung ist anders als sie es kennt. Seine Gedankengänge wirken auf sie unzusammenhängend und willkürlich. Sie versucht, sich an den genauen Wortlaut der Nachricht zu erinnern. An die Buchstaben auf der Serviette, die Striche, die frische Tinte.
»Nein«, stammelt sie, »aber ...«
Mit einem theatralischen Seufzen klappt er das Buch zu und stützt seine Ellbogen auf.
»Hören Sie mir zu. Es tut mir wirklich leid, dass mit Ihrem Freund scheinbar etwas Furchtbares geschehen ist. Aber alle Großwächterfamilien haben hier freie Hand.« Er mustert sie von oben bis unten. Hailey unterdrückt den Drang, wegzulaufen. »Ah, ich verstehe. Dein Gesicht kenne ich. Du bist eine der Jugendlichen, die aus der Klinik geflohen sind, richtig?«
»Also, ähm ...«
»Bedauerlich, dass ihr fliehen müsst. Aber ich kann Herrn Donar verstehen. Er ist für die Sicherheit verantwortlich und ihr stellt als Traumlose ein enormes Risiko für jeden Bürger dar.«
Hailey möchte etwas erwidern, aber die Worte bleiben ihr im Hals stecken. Diese Unterredung hat sie sich anders vorgestellt. Jonathan Keisar scheint ihr einerseits verständnisvoll und andererseits berechnend. Der Wechsel seiner Gedanken erfolgt so schnell, dass Hailey nicht hinterherkommt.
»Leider muss ich dich nun ebenfalls an ihn übergeben.«
Seine schlanken Finger greifen nach dem Telefon auf seinem Schreibtisch.
»Warten Sie!«, bricht es aus Hailey heraus. Sie schnappt nach Luft. »Warten Sie bitte«, wiederholt sie etwas ruhiger. Tatsächlich hält er inne und zieht die Augenbrauen fragend nach oben. »Es gibt etwas, das ich Ihnen sagen muss.«
»Dann raus damit, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«
Hailey blinzelt, um den Tränenschleier zu lichten. Sie kann nicht glauben, dass ihr der Präsident wirklich zuhören möchte.
»Die Seelenfresser sind eine Lüge«, beginnt sie und erzählt ihm alles, was sie bisher herausgefunden hat. Selbst die Wahrheit über ihren Vater berichtet sie bis ins kleinste Detail. Sie hat das Gefühl, ihn so von seiner Schuld, die er in den Augen der Regierung trägt, befreien zu können.
»Und wie genau bist du unbemerkt hierher gelangt? Diesen Teil habe ich nicht ganz verstanden.«
»Ich habe ihn auch nicht erzählt.« Demonstrativ verschränkt sie die Arme vor der Brust. Teils aus Trotz und teils, weil sie das Zittern ihrer Hände verbergen möchte. »Haben Sie von all dem gewusst?« Unwillkürlich hält sie den Atem an. Seine Antwort
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