Traumlos, Band 1: Im Land der verlorenen Seelen (German Edition)
Lehrerzimmer.
»Nichts«, antwortet Frau Tanai scharf, woraufhin ein jüngerer Mann an der Tür erscheint. Macy hat ihn noch nie zuvor gesehen, doch er macht auf sie nicht den Eindruck eines typischen erbarmungslosen Beamten.
»Hallo, kann ich dir helfen?«
»Ich wollte Frau Tanai bitten, mir mein Handy wiederzugeben. Ich warte auf einen dringen Anruf aus dem Krankenhaus. Meine Oma ist schwerkrank, wissen Sie?«
»Weshalb haben Sie ihr das Handy denn abgenommen, werte Kollegin?«
»Weil sie es während des Unterrichts benutzt hat!«, herrscht die Mathelehrerin ihn an, und eine kleine Ader an ihrer Schläfe beginnt zu pulsieren. Fasziniert beobachtet Macy das Schauspiel.
»Aber wenn sie doch auf einen wichtigen Anruf wartet? Sehen Sie doch mal, wie blass das Kind ist.«
Der fremde Lehrer verschwindet im Zimmer und kehrt kurz darauf mit einer Kiste zurück, welche er Macy unter die Nase hält.
»Welches gehört denn dir?«
»Das da«, flüstert Macy und deutet schüchtern auf ihr Mobiltelefon.
»Na dann nimm es dir und geh nach Hause. Ich hoffe, deiner Oma geht es bald wieder besser.«
Blitzschnell greift Macy nach dem Gerät und lächelt dem fremden Engel dankbar zu. Dann dreht sie sich um und rennt durch den leeren Schulkorridor, die wütenden Schreie von Frau Tanai im Ohr. Macy kann ihr Glück kaum fassen. Endlich kann sie Jules anrufen und schauen, ob es ihm gut geht.
Freudig hüpft sie die Treppen des Schulgebäudes hinab und schaltet gleichzeitig ihr Handy an. Gerade als es gestartet ist, vibriert es.
»Macy, ich bin‘s«, flüstert Hailey in Jules Handy und hofft, dass Macy sie hören kann. Da Hailey nie ein Mobiltelefon besitzen durfte, fühlt sich das kalte Metall ungewohnt an und Hailey ist sich unsicher, ob ihr Mund nicht zu weit vom Lautsprecher entfernt ist.
»Hailey!«, quietscht Macy so laut, dass Hailey das Telefon ein Stück von ihrem Ohr weghalten muss. Sobald ihre Freundin wieder still ist, drückt sie es wieder eng an ihre Wange.
»Jules ist hier bei mir. Danke, dass du ihn geschickt hast, aber ich kann hier noch nicht weg. Zuerst muss ich meinen Freunden helfen«, rattert Hailey ihren vorher überlegten Text herunter und legt dann auf.
»Hier«, sie drückt Jules sein Eigentum in die Hand. »Und jetzt?«
»Jetzt muss ich Hailey erst einmal alles erzählen, was ich weiß.«
Verdutzt sieht Hailey auf die verletzte Kira hinab.
»Wieso das?«
»Weil ich ehrlich gesagt befürchte, dass weder Caleb noch ich diesen Plan überleben werden«, gesteht Kira und ein zartes Lächeln umspielt ihre Lippen. »Jetzt hör mir zu. Du bist nicht dumm, da muss ich Caleb zustimmen. Und du hast das Herz am rechten Fleck, also sei‘s drum: Wir glauben, dass die Seelenfresser nur eine Illusion sind. Besser gesagt, Caleb hat das herausgefunden. Er hat in den vierzehn Jahren, die er hier verbracht hat, immer wieder Krankenakten von anderen Resistenten zugespielt bekommen. Und was soll ich sagen? Bei vielen – nicht bei allen – gab es eine Gemeinsamkeit: Ihnen fehlte die Impfung.«
»Impfung?«, unterbricht Jules sie argwöhnisch und kassiert dafür einen bösen Blick von Hailey.
»Ja. Die Impfung, die jedes Kleinkind bekommt, damit der Körper sich an das Traumkontrollmittel gewöhnt. Zumindest lässt uns die Regierung das glauben. Aber Caleb hat lange überlegt. Er ist genial, Hailey. Ich habe noch nie einen so intelligenten Menschen getroffen. Zusammenhänge erfasst er innerhalb von Sekunden und –«
»Komm auf den Punkt«, zischt Jules.
»Er glaubt, dass diese Impfung ein Gift ist. Ein Gift, gegen das einige von uns immun sind. Ein Gift, welches dafür verantwortlich ist, dass wir nachts sterben, wenn wir nicht das Traumkontrollmittel mit Gegengift zu uns nehmen.«
Haileys Kinnlade fällt nach unten.
»Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt?«, stottert sie.
»Ich für meinen Teil habe nie an die Seelenfresser geglaubt. Sie gehören für mich ins Reich der Fabelwesen«, mit großer Kraftanstrengung krempelt Kira ihren linken Ärmel zurück. »Genau wie Drachen. Dafür steht mein Tattoo.«
Eindringlich sieht sie Hailey in die Augen. Langsam begreift diese die Ungeheuerlichkeit von Kiras Worten.
Jules fährt sich mit einer Hand durchs Haar, während die andere noch immer das Skalpell umklammert.
»Wenn das wahr wäre, hätte die Regierung sämtliche Ärzte ja ... scheiße.«
Jules Augen weiten sich vor Entsetzen. Er taumelt und lässt sich auf der Liege nieder. »Sie haben es
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