Traumlos, Band 1: Im Land der verlorenen Seelen (German Edition)
Regalbrettern erzittern.
»Hier entlang«, brüllt eine herrische Stimme und der Boden beginnt zu beben. Tausende Füße trampeln den Gang entlang und versuchen einer Gefahr zu entgehen, die gar nicht existiert. Hailey zählt langsam mit. Als sie bei dreißig angekommen ist, zählt sie noch weiter, dann gibt sie Jules das Zeichen, die Tür zu öffnen. Draußen ist niemand. Vorsichtig späht Hailey um die Ecke in den Speisesaal und unterdrückt einen Freudenschrei, als sie Caleb dort liegen sieht. Er ist bewusstlos, sein Hemd zerrissen, die leicht behaarte Brust und der muskulöse Bauch entblößt.
Vor Schreck und Scham bleibt Hailey im Türrahmen stehen. In ihrem Bauch flattern Hunderte Schmetterlinge umher und sie fühlt sich, als würde ihr Herz so schnell pochen, dass es in einer Minute alle Schläge eines ganzen Lebens verbraucht.
»Hailey komm«, zischt Kira und rempelt sie von hinten an. Sofort setzen sich Haileys Füße in Bewegung, auch wenn sie das nicht mitbekommt. Plötzlich kniet sie neben Caleb, berührt seine warme Haut, hilft ihm nach oben.
In der einen Sekunde lastet sein gesamtes Körpergewicht auf ihr, in der nächsten ist Jules bei ihr und stützt Calebs rechte Seite.
»Durch die Luke!«, brüllt er, um die schrille Sirene zu übertönen. Mühsam schleppen sie Caleb zum Fließband, das noch immer läuft und laden seinen bewusstlosen Körper darauf ab. Als sein Arm von Haileys Schulter gleitet, spürt sie für einen kurzen Augenblick einen schmerzhaften Stich im Herz, als hätte man es hier herausgerissen.
»Was ist denn los mit mir?«
Abwesend betrachtet sie Calebs Gesicht. Die geschwollenen Augen, seine langen Wimpern. Obwohl er zusammengeschlagen wurde, sieht er in ihren Augen noch immer gut aus.
»Komm schon!«
Kira zerrt heftig an ihrem Arm und fährt kurz darauf hinter Calebs Körper durch die Luke. Jules ist schon verschwunden. Mit zittrigen Knien schwingt Hailey sich auf das Laufband und quetscht sich durch das schwarze Loch. Finsternis umgibt sie, bis sie durch einen gummiartigen Vorhang fährt und schließlich in hellem Kunstlicht steht.
Noch bevor sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnen können, wird sie am Arm gepackt.
»Hier entlang!«
Jules schleift Caleb hinter sich her und steuert direkt auf die Tür zu, die Mat beschrieben hat. Gemeinsam stoßen sie Kira und Hailey auf und finden sich in einem Gang wieder, dessen Decke mit Neonröhren überzogen ist, von denen einige kaputt sind und andere nur noch sporadisch aufflackern. Die Luft ist abgestanden und muffig, die Tür am anderen Ende kaum zu sehen.
»Das ist ja schlimmer als jeder Horrorfilm«, flüstert Kira mit belegter Stimme und Hailey muss ihr zustimmen.
Als ihre Mutter einmal abends zu einem Notfall gerufen wurde, stahl Hailey sich aus der Wohnung, um mit Macy ins Kino zu gehen. Sie wählten einen alten Horrorfilm und Hailey erinnert sich noch heute an Macys Stimme neben sich im dunklen Kinosaal. »Nein, geh nicht da rein!«
Genau das hatte auch sie dem Mädchen auf der Leinwand zurufen wollen.
Und vermutlich würden Kinobesucher das jetzt auch ihnen zurufen.
»Geht nicht den Gang entlang, da hinten lauern die Seelenfresser!«
Hailey hört die Stimme laut in ihrem Kopf wiederhallen. Obwohl sie weiß, dass es nur eine Ausgeburt ihrer Fantasie ist, fröstelt sie.
»Wir müssen.«
Bestimmt drängelt Jules sich an ihnen vorbei und strebt dem Ausgang entgegen.
Hailey wirft Kira einen unsicheren Blick zu und folgt ihm. Mit schnellen Schritten durchqueren sie den Gang. Hailey atmet erleichtert auf, als ihre Hand die Türklinge nach unten drückt. Jules ächzt unter der Last von Calebs Gewicht.
»Jetzt aber schnell«, stöhnt er und lächelt dabei, während sein Gesicht vor Schweiß glänzt.
Mit aller Kraft stemmt Hailey sich gegen die massive Metalltür, die erstaunlich leicht nach außen schwingt. Helles Tageslicht strömt in den Korridor und vertreibt die Schatten. Kleine Staubpartikel wirbeln in die Freiheit. Schnell treten sie ebenfalls nach draußen. Verwirrt lauscht Hailey dem Nachklang des Alarms in ihrem Ohr, bis sie bemerkt, dass die Metalltür sämtliche Geräusche innerhalb der Klinik absorbiert. Langsam gewöhnen sich Haileys Augen an das helle Licht und sie blinzelt überrascht, als sie die Umgebung erkennt.
Die Tür hat sie zu einem Seitenausgang geführt. Rechts von ihr führt ein Kiesweg zur Straße, direkt vor ihr liegt eine Böschung, an deren Fuß sich der Wald erstreckt. Der Wind wispert
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