Traummann auf Raten
auch immer einbildete, Joanna hatte in Lionels Verhalten nie etwas entdeckt, was über ausgesuchte Höflichkeit hinausgegangen wäre. Außerdem hing das große Porträt seiner verstorbenen Frau nach wie vor an seinem Ehrenplatz über dem Kamin im vormals ehelichen Schlafzimmer, das Lionel bis zu seinem eigenen Tod benutzt hatte.
Cynthia sah sie boshaft an. „Hat Gabriel je mit Geschirr nach dir geworfen? Nein, dazu ist er vermutlich viel zu gut erzogen, obwohl ich manchmal den Eindruck hatte, dass ein ziemlich heftiges Temperament hinter seiner kühlen Fassade brodelt.“
Joanna presste die Lippen zusammen. „Das kann ich nicht beurteilen.“
Cynthia lachte. „Natürlich nicht, Kleines. Noch eine gescheiterte Ehe“, fügte sie versonnen hinzu. „Gabriel muss den Tag verfluchen, an dem er sich darauf eingelassen hat.“
„Wahrscheinlich.“ Joanna stand auf. „Du wirst ihn bald selbst danach fragen können. Allerdings bezweifle ich, dass er es dir verraten wird.“
„An deiner Stelle wäre ich mir dessen nicht so sicher.“ Cynthia rekelte sich wie eine Katze auf dem Bett. „Der Altersunterschied zwischen uns beträgt nur knapp sechs Jahre. Vielleicht freut er sich ja über eine … Vertraute.“
Der sonderbare Unterton in Cynthias Stimme ließ Joanna innehalten. „Was willst du damit sagen? Dass du jetzt hinter dem Sohn her bist, nachdem du beim Vater keinen Erfolg hattest?“
In Cynthias blaue Augen trat ein eiskaltes Glitzern. „Es ist zwar taktlos formuliert, aber nicht ganz unzutreffend. Ich muss schließlich etwas unternehmen. Im Gegensatz zu dir kann ich nicht darauf hoffen, dass Lionels Testament mich rettet. Wären wir offiziell verlobt gewesen, wäre das natürlich etwas anderes. Dann hätte ich gewisse Ansprüche. Ich bin mir allerdings ziemlich sicher, dass er mir Larkspur Cottage vererbt hat – ich habe schließlich oft genug darauf angespielt. Und überhaupt, warum solltest du dich beschweren? Du willst Gabriel nicht, also sei kein Spielverderber.“
„Das würde mir nie in den Sinn kommen.“ Joanna hatte das Gefühl, einen schlechten Traum zu erleben. „Lass dich bitte nicht von der Tatsache stören, dass wir noch verheiratet sind.“
„Keine Sorge, das werde ich nicht“, erwiderte Cynthia. „Und Gabriel sicher auch nicht.“
Joanna musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um die Schlafzimmertür nicht hinter sich zuzuknallen.
Mit heftig klopfendem Herzen kämpfte sie gegen die aufsteigende Übelkeit an, als sie in ihr Zimmer ging, um sich umzuziehen. Gabriel und Cynthia, dachte sie. Cynthia und Gabriel.
Lag eine solche Beziehung im Bereich des Möglichen?
Seufzend nahm sie eine langärmelige Wollbluse und einen schlichten schwarzen Rock aus dem Schrank, während sie versuchte, die Situation objektiv zu betrachten.
Gabriel war zweiunddreißig, Cynthia hingegen siebenunddreißig, wirkte aber wesentlich jünger. Sie war Stammkundin einer benachbarten Wellnessfarm, deren Fitnessraum sie ebenso häufig frequentierte wie den Schönheitssalon. Im Sommer spielte sie Tennis, im Winter Squash und ganzjährig Golf. Ihre Garderobe und ihr Make-up waren stets makellos, ihr blondes Haar war meisterlich aufgehellt.
Rein äußerlich ist sie zumindest eine weitaus passendere und attraktivere Hausherrin, als ich es war oder je sein könnte, überlegte Joanna nach einem kurzen Blick in den Spiegel. Was habe ich schon zu bieten? überlegte sie deprimiert. Glattes braunes Haar, hellen Teint und braune Augen.
Cynthia war ein Vamp. Neben ihrer Schönheit besaß sie einen angeborenen Sex-Appeal, der sich in ihrer Stimme, ihrer Körpersprache und ihrer Wortwahl zeigte, sobald ein Mann in ihre Nähe kam.
Lionel hatte ihren Verlockungen widerstanden, doch er war eine Ausnahme gewesen. Joanna hatte beobachtet, wie vernünftige, weltgewandte Männer sich in alberne Schuljungen verwandelten, wenn Cynthia ihren Charme spielen ließ.
Sogar mein eigener Vater, dachte sie wehmütig.
Cynthia hatte von Anfang an Lionel nachgestellt. Was wäre passiert, wenn sie stattdessen ihre Aufmerksamkeit auf Gabriel konzentriert hätte? Lionel hätte es vielleicht nicht gebilligt, aber kaum ernsthafte Einwände gegen eine Heirat erhoben, wenn die beiden eine Ehe angestrebt hätten.
Gabriel hat mich nie gewollt, gestand Joanna sich ein. Warum also nicht Cynthia?
Ich lasse mich von ihm scheiden, daher sollte es mir egal sein, wer seine zweite Frau wird.
Plötzlich spürte sie, wie ihr Herz zu rasen begann
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