Traummann auf Raten
und blanker Zorn in ihr erwachte. Wider alle Vernunft und Logik erkannte sie, dass es ihr keineswegs egal war.
Eine erschreckende Feststellung.
3. KAPITEL
Das Dinner war eine einsame, triste Angelegenheit. Während Joanna die Gemüsebrühe löffelte und lustlos an der gegrillten Hähnchenbrust herumstocherte, war sie sich schmerzlich des leeren Platzes am Kopf der Tafel bewusst.
Jess und Molly, Lionels Retriever, lagen trübsinnig an der Tür, die Köpfe ratlos auf die Pfoten gebettet.
„Ihr armen Mädchen.“ Joanna beugte sich zu ihnen hinab, um sie zu kraulen, bevor sie das Zimmer verließ. „Niemand kümmert sich um euch, und das versteht ihr nicht. Keine Sorge, ich nehme euch nachher mit auf den Hügel.“
Als sie den Kaffee im Salon vor dem Kamin trank, streckten sich die Hunde zu ihren Füßen aus. Neben ihr auf dem Tisch lag die noch immer ordentlich gefaltete Morgenzeitung. Wehmütig erinnerte sie sich daran, dass sie normalerweise jetzt mit Lionel das Kreuzworträtsel lösen würde.
Joanna riss sich zusammen. „Ich darf nicht zurückblicken“, ermahnte sie sich energisch und stand auf. „Das bringt nur Kummer.“
Da sie jedoch nicht wagte, über die Zukunft nachzudenken, blieb ihr nur die inhaltlose Gegenwart. Irgendwann würde sie sich allerdings mit der unwillkommenen Entdeckung befassen müssen, die sie vor dem Dinner gemacht hatte. Es war wichtig, diese Erkenntnis zu verarbeiten und noch vor Gabriels Ankunft zu verdrängen.
Ich befinde mich in einem emotionalen Tief, sagte sie sich. Deshalb bin ich so verletzlich und komme auf die absurdesten Ideen. Oder vielleicht hat Cynthia auch Recht, und ich bin einfach eine Spielverderberin.
Nun, damit konnte Joanna durchaus leben – aber nicht mit dem Gedanken, dass Gabriel ihr noch immer etwas bedeutete.
Entschlossen wandte sie ihre Aufmerksamkeit einer anderen boshaften Anspielung von Cynthia zu, der Behauptung, dass Lionel sein Leben lang eine tiefe Zuneigung für Joannas Mutter gehegt habe. Kann das stimmen? fragte sie sich.
Sie konnte sich jedenfalls nicht daran erinnern, dass er je etwas geäußert hatte, was diese Behauptung untermauert hätte. Ungeachtet seiner stürmischen Ehe war sie stets überzeugt gewesen, dass er Valentina Alessio geliebt hatte. Und auf gar keinen Fall hatte er ernsthaft erwogen, erneut zu heiraten – egal, wie Cynthia darüber denken mochte.
Henry Fortescue hatte Mary Verne als Lionels Lieblingscousine bezeichnet, und so wollte Joanna das Verhältnis der beiden zueinander auch in Erinnerung behalten.
Als einer der Hunde leise winselte, fiel ihr ein, dass sie ihnen einen Spaziergang versprochen hatte. Rasch zog sie Stiefel an, warf ihren Anorak über und schlang sich einen Schal um den Hals. Mit einer Taschenlampe ausgerüstet, verließ sie das Haus durch eine Seitentür, während die Hunde erfreut an ihr hochsprangen. Sie liefen durch den Garten und über das dahinter liegende Feld zum Hügel.
Die Temperatur war gefallen. Der feuchte, eisige Wind ließ Joanna trotz ihrer warmen Jacke frösteln. Es könnte Schnee geben, dachte sie, während sie den herumtollenden Tieren den ausgetretenen Pfad hinauf folgte.
„Freut euch nicht zu früh“, warnte sie die beiden. „Wir gehen nur bis zur Einsiedelei, dann kehren wir um.“
Der Weg war steil und mit losem Geröll übersät. Außer Atem erreichte sie die felsige Kuppe. Sie war froh, hinter den massigen Gesteinsbrocken Schutz vor dem schneidenden Wind zu finden. Die Hunde rannten aufgeregt kläffend durch das trockene Farnkraut. Joanna knipste die Lampe aus, um die Batterien zu schonen, und verstaute sie in der Jackentasche.
Der Platz war ideal, um die Sterne zu beobachten, doch an diesem Abend schoben sich schwere Wolken über den Himmel.
Joanna blickte auf den Weg, den sie gekommen war. Tief unter ihr im Tal lag das Herrenhaus. Im Küchentrakt brannte noch Licht, in Cynthias Schlafzimmer ebenfalls, aber der Rest des Gebäudes war in völlige Dunkelheit gehüllt.
Noch vor einer Woche wäre es hell erleuchtet gewesen. Lionel hatte Licht und Wärme geliebt und nichts von der Theorie gehalten, dass man Lampen auch ausschalten konnte, wenn man ein Zimmer verließ. Die dunklen Fenster verrieten deutlicher als alles andere, dass Westroe Manor verwaist war.
Der Wind heulte leise zwischen den Felsen. Einer Legende zufolge war vor Jahrhunderten ein Mann auf den Hügel gestiegen, um sich hier oben einen Unterschlupf zu bauen, wo er in absoluter Einsamkeit beten und
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