Traummann auf Raten
Trauergottesdienstes am Vormittag verlieren zu können. Die alte Dorfkirche war bis auf den letzten Platz gefüllt gewesen, man hatte die Zuneigung und Rührung der Gemeinde fast körperlich spüren können.
Joanna war an Gabriels Seite gefasst den Mittelgang entlanggeschritten, und falls man hinter ihrem Rücken getuschelt oder bedeutsame Blicke gewechselt hatte, so war es ihr nicht aufgefallen. Einzig Cynthias demonstrativ unterdrücktes Schluchzen hatte die aufrichtigen Worte des Beileids gestört. Ihr Benehmen war die ganze Woche über unmöglich gewesen, dachte Joanna erschöpft.
Ihre Stiefmutter hatte die Rolle der Hauptleidtragenden übernommen und das Personal mit ständigen Wünschen tyrannisiert. Außerdem hatte sie das Arrangement für die Beisetzung kritisiert, angefangen bei der Auswahl der Choräle bis hin zur Zusammenstellung des kalten Büfetts, das man beim anschließenden Empfang im Haus offerieren wollte. Wohlweislich hatte sie allerdings darauf verzichtet, eigene Vorschläge zu unterbreiten oder gar ihre Hilfe anzubieten.
Dabei hatte sie Gabriel kaum aus den Augen gelassen.
Und er hatte anscheinend nichts dagegen gehabt, wie Joanna gerechterweise einräumen musste. Früher hatte er Cynthia keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
Cynthia hätte es damals auch nicht begrüßt, da sie ganz auf die Eroberung Lionels fixiert gewesen war.
Doch jetzt hatte sie Gabriel sogar überredet, sie nach London zu fahren – unter dem Vorwand, dass sie keine passende Garderobe für die Trauerfeier habe. Zweifellos hatte sie ihn überdies dazu gebracht, die Rechnungen für den Inhalt der unzähligen Kartons, Tüten und Schachteln zu begleichen, die sie bei ihrer Rückkehr stolz auf ihr Zimmer trug.
Eingedenk des großen Auftritts am Morgen, als Cynthia tief verschleiert und von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt, die Treppe heruntergeschwebt war, konnte Joanna nur hoffen, dass Gabriel mit seiner Investition zufrieden war. Vielleicht denkt er ja, ich hätte mehr Wert auf mein Äußeres legen sollen, hatte sie auf dem Friedhof überlegt und den bequemen dunkelblauen Wollmantel enger um sich gezogen.
Zurück im Haus hatte Cynthia sich auf einem der Sofas im Salon niedergelassen und mit anmutiger Trauer die Beileidsbekundungen entgegengenommen, als wäre sie Lionels Witwe.
Oder Gabriels künftige Frau.
Der Gedanke durchzuckte Joanna wie ein Messerstich. Nichtsdestotrotz hegte sie nicht mehr den geringsten Zweifel an Cynthias Absichten, zumal sie ihre Stiefmutter in den vergangenen Tagen in Aktion erlebt hatte.
Es ist mir egal, sagte sie sich wieder und wieder. Es kann mir nur egal sein, denn wenn es passiert, bin ich längst fort.
Bis dahin musste sie sich nach besten Kräften zusammenreißen und die mitfühlenden Worte ihrer Freunde und Nachbarn beantworten.
„Sie sehen recht blass aus, meine Liebe“, bemerkte die Frau des hiesigen Abgeordneten. „Ich habe Ihrem charmanten Gatten geraten, mit Ihnen einen kleinen Winterurlaub zu machen. Sozusagen als zweite Flitterwochen“, fügte sie verschwörerisch hinzu.
Joanna fing einen spöttischen Blick von Gabriel auf, der nicht weit entfernt von ihr stand. Sie errötete tief und äußerte eine belanglose Floskel.
Die Gäste brachen allmählich auf. Während Gabriel sich draußen von ihnen verabschiedete, nutzte Joanna die Gelegenheit, ihr Zimmer aufzusuchen. Nur noch eine letzte Prüfung – die Testamentseröffnung –, dann konnte sie wieder ihr eigenes Leben führen. Versonnen kämmte sie sich das Haar.
Die Frau des Abgeordneten mochte zwar vielleicht nicht auf dem Laufenden sein, was die Privatsphäre ihrer Gastgeber betraf, aber in einem Punkt hatte sie eindeutig Recht: Joanna sah blass aus. Und überdies unscheinbar und total langweilig in dem cremefarbenen Pullover und schlichten dunkelblauen Rock. Andererseits hatte ein so schlichtes Outfit unter diesen Umständen auch Vorteile.
Sie wollte nicht auffallen. Am liebsten wäre sie mit dem Hintergrund verschmolzen, damit sie irgendwann spurlos verschwinden könnte.
Unschlüssig blickte sie aus dem Fenster. Sie hatte keine Lust hinunterzugehen, obwohl sie wusste, dass Henry Fortescue inzwischen längst von Cynthia mit Beschlag belegt worden war und sehnsüchtig auf Rettung wartete.
Es hatte in der Nacht geschneit, und noch immer überzog die oberen Felder eine feine weiße Schicht. Der Himmel war grau, und die Landschaft wirkte trist und erstarrt. Genau wie ich, dachte sie selbstironisch. Das Wetter
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