Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Chatwin
Vom Netzwerk:
und in Hütten aus Flechtwerk und Lehm leben.
    Aus diesen Stätten sind die großen buddhistischen Klöster hervorgegangen.
    *
    Im frühen Christentum gab es zwei Arten von Pilgerreisen: »für Gott wandern« (ambulare pro Deo), nach dem Vorbild Christi oder Vater Abrahams, der die Stadt Ur verließ und von da an in einem Zelt lebte. Die zweite war die »Pilgerreise als Bestrafung«: dabei wurde von den »enormer Verbrechen« (peccata enormia) für schuldig befundenen Verbrechern auf der Basis festgesetzter Tarife verlangt, die Rolle des wandernden Bettlers zu übernehmen – mit Hut, Geldbeutel, Stock und Abzeichen – und auf der Straße ihr Heil zu suchen.
    Der Gedanke, daß Gehen Gewaltverbrechen wiedergutmachte, geht auf die Wanderungen zurück, die Kain auferlegt wurden, um den Mord an seinem Bruder zu sühnen.
    *
    Oualata, Mauretanien
    Die Kameltreiber trugen Abhäutemesser statt Rosenkränze um den Hals. Sie hatten als Hilfstruppen bei der Legion gedient. Bei Sonnenuntergang brachten sie mich zu einem Haus am Stadtrand, um den bhagi zu hören.
    Der bhagi war ein heiliger Wanderer, der von einer Oase zur nächsten ging, begleitet von seinem zahnlosen alten Vater. Seine Augen waren umwölkte blaue Mandeln. Er war von Geburt an blind, und der Vater mußte ihn überall hinführen.
    Er kannte den ganzen Koran auswendig, und wir fanden ihn, wie er zusammengekauert an die Lehmziegelwand lehnte und selig lächelnd die Suren psalmodierte, während sein Vater die Seiten des Buchs umblätterte. Die Wörter kamen immer schneller, bis sie zum Schluß in einem ununterbrochenen, hämmernden Rhythmus hervorgestoßen wurden, einem Schlagzeugsolo vergleichbar. Der Vater schnippte die Seiten um, und die Menschen in der Menge begannen sich mit »verlorenen« Blicken zu wiegen, als wären sie kurz davor, in Trance zu verfallen.
    Plötzlich hielt der bhagi inne. Einen Augenblick herrschte absolute Stille. Den folgenden Vers begann er sehr, sehr langsam zu sprechen, wobei er seine Zunge um die Kehllaute wikkelte und die Wörter hinausschleuderte, eins nach dem andern, den Zuhörern entgegen, die sie als Botschaften von »dort draußen« entgegennahmen.
    Der Vater lehnte seinen Kopf an die Schulter seines Sohnes und stieß einen tiefen Seufzer aus.
    *
     
    Das Leben ist eine Brücke. Gehe über sie hinweg, aber baue kein Haus darauf.
    Indisches Sprichwort
    *
    Während der Frühjahrs-Migration, Provinz Fars
    Zwischen Firusabad und Schiras ist die Migration der Quashgai in vollem Gang: meilenweit Schafe und Ziegen – wie Heerzüge von Ameisen, wenn man sie von den Bergen aus verfolgt. Kaum ein Grashalm: ein grünes Stäuben in den Bergen, aber an der Straße nur blühender weißer Besenginster und graublättriger Beifuß. Die Tiere dünn und schwach: mit Haut überzogene Knochen, kaum mehr. Hin und wieder fällt eins aus der Reihe, wie ein Soldat, der bei der Parade ohnmächtig wird, es taumelt und fällt, und dann beginnt ein Wettlauf zwischen den Geiern und den Hunden.
    Geifernde Doggen! Rotköpfige Geier! Aber sind ihre Köpfe wirklich rot oder rot von Blut? Beides! Sie sind sowohl rot als auch blutverschmiert. Und wenn man zurücksieht, von wo wir gekommen sind: überall Spiralen von kreisenden Geiern.
    Die Quashgai-Männer waren mager, zäh, vom Wetter gegerbt. Sie trugen zylinderförmige Mützen aus weißem Filz. Die Frauen waren in ihrem besten Staat: bunte Kattunkleider, die eigens für die Frühlingsreise gekauft worden waren. Einige ritten auf Pferden oder Eseln, andere saßen auf Kamelen, zusammen mit den Zelten und den Zeltstangen. Ihre Körper hoben und senkten sich mit den Sätteln. Ihre Augen waren auf die Straße vor ihnen gerichtet.
    Eine Frau in Safrangelb und Grün ritt auf einem schwarzen Pferd vorbei. Hinter ihr, auf dem Sattel festgebunden, spielte ein Kind mit einem mutterlosen Lämmchen. Kupfertöpfe klapperten, und es gab einen Hahn, der mit einer Schnur festgebunden war.
    Außerdem stillte sie ein Baby. Ihre Brüste waren mit Halsketten aus goldenen Münzen und Amuletten geschmückt. Wie die meisten Nomadenfrauen trug sie ihren Reichtum am Leib.
    Was sind also die ersten Eindrücke eines Nomadenbabys von dieser Welt? Eine schwingende Brustwarze und ein Goldschauer.
    *
    Die Hunnen brennen vor unersättlicher Lust auf Gold.
    Ammianus Marcellinus
    *
    Denn weil es Ismaeliten waren, hatten sie goldene Stirn bänder.
    Buch der Richter 8,24
    *
    Ein gutes Pferd ist ein Mitglied der Familie.
    Redensart der

Weitere Kostenlose Bücher