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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Chatwin
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Quashgai
    *
    Dasht-i-Arjan, nahe Schiras
    Der alte Mann hockte sich neben seine sterbende kastanienbraune Stute: bei der Migration fallen die Pferde als erste um. Er hatte einen Flecken grünes Gras gefunden. Er hatte die Stute mit einschmeichelnden Worten dorthin gelockt und versuchte, ihr eine Handvoll Gras zwischen die Zähne zu stopfen. Es war zu spät. Sie lag auf der Seite, mit heraushängender Zunge und den glasigen Augen, die den nahenden Tod ankündigen.
    Der alte Mann biß sich auf die Lippen und weinte unmerklich. Nur zwei, drei Tränen liefen ihm über beide Wangen herab. Dann schulterte er den Sattel, ohne einen Blick zurückzuwerfen, und zusammen gingen wir zur Straße.
    Auf der Straße wurden wir von einem der Khans in seinem Landrover mitgenommen.
    Es war ein sehr aufrecht sitzender alter Herr mit Monokel, der einiges über Europa wußte. Er besaß ein Haus und Obstgärten in Schiras, doch in jedem Frühjahr stellte er sich zur Verfügung, um seinem Stamm zu helfen.
    Er brachte mich zu einem Zelt, wo die anderen Khans sich trafen, um ihr Vorgehen zu erörtern. Einer war ein schicker Typ in einer wattierten Skijacke. Seine Bräune stammte, wie mir schien, vom Skilaufen. Ich argwöhnte, daß er soeben aus St. Moritz zurückgekommen war, und er mißtraute mir auf Anhieb.
    Der Khan, dem sich alle beugten, war ein drahtiger Mann mit einer Hakennase und einem Büschel grauer Stoppeln am Kinn. Er saß auf einem Kelim und hörte sich die Argumente der anderen an, ohne eine Miene zu verziehen. Dann griff er nach einem Stück Papier, auf das er mit dem Kugelschreiber ein paar Schlangenlinien zeichnete.
    Es war die Reihenfolge, in der die verschiedenen Klans durch den nächsten Landstrich ziehen sollten.
    *
    Die gleiche Szene ist in der Genesis 13,9 beschrieben, als Abraham, der Beduinenscheich, sich sorgt, daß seine Cowboys mit Lots Cowboys zu kämpfen beginnen: »Steht dir nicht alles Land offen? Scheide dich doch von mir. Willst du zur Linken, so will ich zur Rechten, oder willst du zur Rechten, so will ich zur Linken.«
    *
    Jede Nomadenwanderung muß mit der Genauigkeit und Flexibilität eines militärischen Feldzugs vorbereitet werden. Hinter uns verdorrt das Gras. Vor uns sind die Pässe vielleicht durch Schneefälle versperrt.
    Die meisten Nomaden behaupten, ihren Migrationsweg (arabisch Il-Rah, »Der Weg«) zu »besitzen«, aber in der Praxis melden sie nur den Anspruch auf periodische Weiderechte an. Zeit und Raum verschmelzen so miteinander: ein Monat und eine Wegstrecke sind ein und dasselbe.
    Aber die Wanderung eines Nomaden ist – anders als die eines Jägers – nicht seine eigene. Sie ist vielmehr eine Führung von Tieren, deren instinktiver Orientierungssinn durch Domestizierung abgestumpft ist. Sie setzt Geschick und Risikobereitschaft voraus. Ein Mann kann, wie Hiob, in einem einzigen Jahr ruiniert werden: so wie die Nomaden in der Sahelzone oder die großen Viehzuchtgesellschaften Wyomings im langen weißen Winter von 1886 auf 1887.
    In einem schlechten Jahr ist die Versuchung für einen Nomaden, von seinem Weg abzuweichen, unwiderstehlich, aber die Armee erwartet ihn mit Maschinengewehren.
    »Die Armee«, sagt mein Freund, der alte Khan, »hat heutzutage den Löwen und den Wolf ersetzt.«
    Nomos ist griechisch und bedeutet »Weide«, und der »Nomade« ist ein Häuptling oder Stammesältester, der die Zuweisung von Weidegründen beaufsichtigt. Nomos nahm daher die Bedeutung »Gesetz«, »gerechte Verteilung«, »das, was kraft des Brauchtums zugewiesen wird« an – und wurde so die Grundlage für die gesamte westliche Gesetzgebung.
    Das Verb nemein – »grasen«, »weiden«, »einordnen« oder »verbreiten« – hatte schon bei Homer eine zweite Bedeutung: »verhandeln«, »verteilen« oder »austeilen« – insbesondere Land, Ehre, Fleisch und Getränke. Nemesis ist die »Verteilung von Gerechtigkeit« und damit von »göttlicher Gerech tigkeit«. Nomisma bedeutet »gültige Münze«: von daher »Numismatik«.
    Die Homer bekannten Nomaden waren die »Stuten melkenden« Skythen, die einst mit ihren Wagen durch die Steppe Südrußlands zogen. Sie waren ein Volk, das seine Anführer unter Grabhügeln bestattete, zusammen mit Pferden und Goldschätzen.
    Aber die Ursprünge des Nomadentums sind sehr schwer zu bestimmen.
    *
    Bandiagara, Mali
    Madame Dieterlen, eine alte Afrika-Kennerin, bewirtete mich mit Kaffee in ihrem Wohnwagen am Rand des Dogon-Felsens. Ich fragte sie, welche Spuren die

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