Traumreisende
zu steigen, doch sie erntete nur Ohrfeigen dafür und wurde zum Aufbruch gezwungen. Wochen vergingen, bis Beatrice nachts wieder durchschlafen konnte. Sie hatte schreckliche Träume von Freda, die um Hilfe schrie, während sich ihr Mund mit Wasser füllte. In ihren Alpträumen verschmolzen die Welpen in dem weißen Sack und ihre beste Freundin, die um sich schlug und um Hilfe schrie, miteinander.
Einige Zeit später hörte Beatrice Schwester Agatha sagen, die Verstorbene sei gefunden worden; ihre Füße hätten im tiefen, dicken Schlamm festgesteckt. Danach wurden Beatrices Träume noch schlimmer. Jede Nacht wurde ihr Schlaf von der Vorstellung gestört, wie Freda im Schlamm um ihr Leben kämpfte, während ihr Mund, ihre Augen und Ohren sich mit Wasser füllten und ihre Füße von riesigen Felsblöcken gefesselt waren.
Niemand vom Verwaltungspersonal nahm den Verlust ihrer besten Freundin überhaupt zur Kenntnis. Es gab weder einen Trauergottesdienst noch eine sonstige Gedenkfeier. Beatrice lernte zu akzeptieren, dass die traditionellen christlichen Handlungen für Wilde nicht vorgesehen waren. Nachts sprach sie mit ihrer toten Schwester und erzählte ihr von ihrem Tag. Endlich träumte sie von Fredas Erlösung: Freda flog mit weißen Schwingen in den Himmel hinauf. Beatrice spürte weiterhin ihre Gegenwart, vor allem, wenn sie einen bestimmten weißen Vogel sah, der sich in der Pause auf den Zaun setzte und zwitscherte und an vielen Abenden über den Schulhof flog.
Jedes mal wenn ein neues Mädchen im Heim ankam, nahmen die Nonnen ihr alle persönlichen Habseligkeiten weg, verbrannten ihre Kleider und schnitten ihr das Haar. Zum Haare schneiden wurde der Neuzugang auf einem hohen Holzstuhl auf dem Gang vor dem Büro der Oberin festgeschnallt. Binnen dreißig Minuten nach der Ankunft konnten die Waisenkinder mit dem Schauspiel rechnen, wie das neue schreiende Kind gefesselt wurde und sich sein Aussehen dramatisch veränderte. Beatrice lernte, dass dies eine Gelegenheit war, sich mit neuen Mädchen anzufreunden. Mit den Jahren spürte sie allmählich, wie einzigartig jede war, aber auch, wie alle in der Gruppe durch ihre Bedürfnisse und Gefühle aneinander gebunden waren. Dennoch betrachtete sie nie wieder ein anderes Mädchen als ihre Schwester.
Die meiste Zeit konnte Beatrice sich aus Schwierigkeiten heraushalten. Sie war nicht verschüchtert, aber sie vertrat auch nicht kühn ihre Ansichten. Statt dessen führte sie Gespräche in ihrem Kopf, etwa so: »Dies ist nicht richtig, ich weiß, dass es nicht so ist, wie es sein sollte. Es ist ein Spiel, bei dem man so tut, als ob.« Sie glaubte nicht, dass es eine Lüge wäre, wenn sie den Unterschied kannte und nur so tat, als ob. Nach Fredas Tod waren die meisten ihrer Gebete und die Zeit, die sie in der Kirche verbrachte, reine Schau; sie gab vor, sich anzupassen, aber in Wirklichkeit tat sie es nicht. Das Lesen fiel ihr leicht, und sie verschlang alles, was sie ergattern konnte. Aber was zur Verfügung stand, war begrenzt.
Als sie neun war, begann sie überall im Haus irgendwelche Arbeiten zu erledigen, und meldete sich freiwillig dafür, in privaten Büros Staub zu wischen. Dort fand sie wunderbare Lehrbücher, Landkarten, Zeitschriften, Enzyklopädien und sogar persönliche Briefe, die sie lesen konnte. Ein-oder zweimal im Jahr hatten alle Nonnen einen freien Tag, und nur zwei blieben dann im Haus zurück. So hatte Beatrice Zugang zu einer Fülle von Bücherwissen, das nicht hinter Glastüren verschlossen war. Die Kirche war der Auffassung, dass weibliche Ureinwohner an Lesen und Schreiben nicht viel mehr brauchten als die Grundkenntnisse, um Straßenschilder und Etiketten auf Büchsen lesen zu können und irgendwann später einmal ein juristisches Dokument zu unterschreiben. Wichtig wäre das Erlernen praktischer Fertigkeiten wie Haushaltsführung, Waschen, Babypflege, Anbauen und Ernten von Feldfrüchten, Konservieren von Lebensmitteln und - für einige wenige und außergewöhnlich kluge Aborigine-Frauen - vielleicht die Pflege von kranken Stammesangehörigen.
An einem bewölkten kalten Tag wurde Beatrice aus der Schule geholt, um beim Hacken und Stapeln von Holz zu helfen. Im Laufe des Vormittags kam ein älterer Aborigine zu ihr und begann ein Gespräch. Er war der erste Erwachsene ihrer eigenen Rasse, den sie jemals sah. Sie unterhielten sich nicht lange, weil der Priester, der das Unternehmen beaufsichtigte, der junge Pater Paul, zu ihm sagte, er
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