Traumreisende
Die Atmosphäre im Haushalt und in der Kirche veränderte sich. Er wurde Zeuge, wie die beiden ihren leiblichen Söhnen liebevolle und fürsorgliche Eltern wurden. Seine Einsamkeit nahm zu. Als erst ein Baby da war, schlief es im Zimmer der Eltern. Bei der Ankunft des zweiten Kindes wurde Geoffs Zimmer zum Kinderzimmer der beiden Söhne, und er bekam ein Bett, eine Kommode, einen Stuhl und eine Lampe in einer Ecke des Kellers.
Reverend Marshall fing an, einzelnen Mitgliedern der Gemeinde die beiden Babys vorzustellen und dann hinzuzufügen: »Und das ist Geoff, unser adoptierter Bruder des Herzens.« Diese Aussage verstand Geoff nie. Manchmal sagte der Geistliche auch noch: »Wir geben uns große Mühe, seine Seele zu retten, bitte beten Sie für ihn und die anderen Wilden überall auf der Welt!« Als Geoff neun war, fand er in der Schulbücherei eine sehr hilfsbereite Bibliothekarin, Mrs. O'Neal. Sie erklärte ihm, ihre Vorfahren seien aus Irland, und es sei wichtig, dass die Menschen etwas über ihre Wurzeln lesen. Sie fand zwei Bücher über Aborigines und schlug Geoff vor, er solle sich die ausleihen und in seiner Freizeit lesen. Geoff nahm die Bücher mit nach Hause, und als an diesem Abend alle schliefen, schaltete er eine Lampe ein und begann zum ersten Mal mit dem Versuch, etwas über seine Abstammung zu erfahren. Die Lehrbücher sagten absolut nichts darüber, dass das Land beschlagnahmt worden wäre oder dass die Menschen gezwungen worden wären, sich einer fremden Herrschaft zu unterwerfen. Sie beschrieben sie als Primitive, die wenig Kleidung trügen, sich von Insekten ernährten und ein elendes Leben führten. Geoff las das mit sehr gemischten Gefühlen. Er fand wenig in den Büchern, um so etwas wie Stolz auf sein Volk zu entwickeln. Zwar gehörte er nicht richtig zur Familie der Marshalls, aber es erschien ihm immer noch besser, als wenn man ihn bei den Aborigines gelassen hätte.
An einem warmen Tag im Jahre 1945, als Freda elf und Beatrice neun war, wurde den Schulkindern etwas sehr Seltenes geboten: Sie durften das Grundstück zu einem Ausflug verlassen und wurden in eine parkähnliche Landschaft an einem nahen Fluss geführt. In den meisten Jahren gab es dort fast kein Wasser, aber diesmal hatte es mehrere Monate lang geregnet. Das Rinnsal war zu einem Fluss angeschwollen und an den meisten Stellen eineinhalb bis zwei Meter tief. Es gab auch zahlreiche tiefere Stellen, an denen das Wasser Strudel bildete. Gegen Mittag entdeckte ein fünfzehnjähriges Mädchen, Hannah, in einiger Entfernung einen alten Baumstumpf direkt am Ufer. Mehrere andere Mädchen folgten ihr, um sie ins Wasser springen zu sehen. Obwohl keine von ihnen jemals Schwimmen gelernt hatte, begriffen sie rasch, dass man es durch einfache Bewegungen mit Armen und Beinen schaffen konnte, wieder ans Ufer zu kommen. Es sah aus, als würde es großen Spaß machen. Ein Mädchen nach dem anderen fasste den Mut, es auszuprobieren. Selbst Beatrice mit ihrer frühen Erinnerung daran, wie sie im Badewasser fast ertrunken wäre, konnte der Erregung nicht widerstehen, etwas auszuprobieren, das aussah, als würde es mehr Spaß machen, als sie je erlebt hatte. Es war faszinierend und tat nur ganz wenig weh, als das Wasser ihr in die Nase drang.
Freda stand in der Reihe und wollte es auch versuchen. Die Gruppe sah zu, wie sie hineinsprang, und wartete darauf, dass Fredas Kopf wieder an die Oberfläche auftauchte, aber er kam nicht. Beatrice wusste nicht, was sie tun sollte. Sie sprang sofort hinterher. Beim Untertauchen tastete sie umher und versuchte, ihre Freundin unter Wasser zu ergreifen. Sie fand sie nicht, und sie war nicht erfahren genug, um zu wissen, wie sie sich im Wasser halten und ihre Suche fortsetzen könnte. Es fiel ihr schon schwer, wieder ans Ufer zu kommen. Hannah rannte los, um Hilfe zu holen. Eine der Schwestern, die sich ärgerte, weil sie ihr Krocketspiel unterbrechen musste, ging widerstrebend zu dem alten Baumstumpf und begann Fragen zu stellen. Wären die Mädchen denn sicher, dass sich jemand im Wasser befinde? Wer sei es? Wie lange sei das dumme Ding schon unter Wasser?
Die fromme Schwester entfernte sich wieder und kam endlich mit zwei anderen Nonnen zurück. Nach ungefähr zwanzig Minuten rieten sie alle Schülerinnen zusammen und sagten ihnen, sie sollen weggehen. Alle wurden angewiesen, nach Hause zu marschieren. Beatrice konnte Freda nicht im Wasser lassen. Sie schrie und kreischte und versuchte, wieder ins Wasser
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