Traumschlange (German Edition)
so.“
Mitchard stapfte mit großen Schritten voran. Abby, die wesentlich weniger sah, hatte Mühe ihm zu folgen, ohne zu stolpern.
„Müssen Sie so rennen?“
„Je schneller wir hier weg sind, desto besser und jetzt halten sie verdammt noch mal die Klappe. Wir sind gleich da.“
Abby hörte die Angst aus seiner Stimme. Ihre eigenen Ängste wurden von Sekunde auf Sekunde schlimmer. In ihrer Brust vibrierte etwas. Es dauerte einen Moment, bis Abby begriff, dass es ihr wild pochendes Herz war. Dann lag das Grab vor ihnen. Obwohl es nur ein niedriger Erdhaufen war, schien er stumm zu klagen, als sie die Schaufeln hineinstießen.
Sie arbeiteten schweigend. Jean am oberen Ende, sie weiter unten. Es war mühselig die festgebackene Erde aufzubrechen. Sie waren noch nicht einmal einen halben Meter tief eingedrungen, als es zu regnen begann. Der Himmel öffnete seine Schleusen, um sie für ihren Frevel zu bestrafen. Der Regen war eiskalt, obwohl es eine warme Nacht war. Nach einer Minute waren beide vollkommen durchnässt. Verbissen gruben sie weiter.
Es gab einen dumpfen Ton, als Jeans Schaufel auf den Sarg traf. Beinahe erschrocken hielten sie inne, aber dann kratzten Mitchard die restliche Erde herunter.
„Wollen Sie wirklich weitermachen? Noch können wir gehen und die Sache vergessen“, raunte Jean.
„Nein. Ich will die Wahrheit wissen.“
Das Loch war nicht besonders tief und so konnten sie am Rand des Grabes knien. Mitchard beugte sich hinab und stieß die Schaufel in einen Spalt an der Seite des Sarges. Das Eisen fasste. Jean stemmte sich gegen den Stiel und wuchtete den Sargdeckel auf.
Abby bereitete sich innerlich auf einen schrecklichen Anblick vor. Ihre Schwester war seit Tagen tot und ihr Körper musste inzwischen in die Verwesung übergegangen sein.
Der Strahl der Taschenlampe wanderte über den Rand des Grabes in den Sarg hinein. Was Abby dann sah, war schlimmer, als alles, was sie sich vorgestellt hatte.
Der Sarg war leer!
Julius Castor saß in seinem Arbeitszimmer hinter seinem Schreibtisch. Eine Stehlampe beleuchtete seine Füße, die er auf die Schreibtischplatte gelegt hatte. In seiner rechten Hand hielt er ein Glas französischen Cognac, aus dem er in regelmäßigen Abständen kleine Schlucke durch seine Kehle rinnen ließ. Die linke Hand führte ebenso regelmäßig eine dicke Zigarre an seinen Mund. Der duftende Rauch der Havanna, eine Romeo Juliet für zwanzig Dollar das Stück, schwebte durch den Raum wie ein zerrissener Seidenschal.
Obwohl es schon weit nach Mitternacht war, dachte Castor nicht daran, zu Bett zu gehen. Er liebte die Stunden der Nacht, wenn endlich Ruhe auf der Plantage einkehrte und ihn das permanente Klagen der Arbeitssklaven nicht ablenkte. Einzig das singende Geräusch der Peitsche vermisste er, wenn die Aufseher die Arbeiter auf die Felder trieben, wo sie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in der Hitze schuften mussten.
Die Geschäfte laufen nicht besonders, dachte Castor.
Erst die Schwierigkeiten mit dieser englischen Zuckerrohrankäuferin und nun waren zwei seiner Arbeiter gestorben, für die er noch keinen Ersatz gefunden hatte. Er musste sich die monatliche Abrechnung nicht ansehen, da er die Zahlen inzwischen auswendig kannte. Die Erträge waren um zwanzig Prozent gefallen. Daran waren nicht einmal die fehlenden Arbeitskräfte schuld. Die Felder waren ausgelaugt. Der Boden verdorrte unter gleißenden Sonne. Er warf einen Blick durch das offene Fenster in den Hof. Endlich regnete es einmal. Die seit Wochen anhaltende Dürre war für Haitis Norden ungewöhnlich und der heißeste Monat des Jahres, der August, lag noch vor ihnen.
Wenigstens waren die Probleme mit Abby Summers gelöst. Morgen würde sie abfliegen. Castor gestand es sich ungern, aber Patrick hatte die Sache gut hingekriegt. Allerdings, es schadete nicht, wenn man auf Nummer sicher ging.
Entschlossen griff er nach dem Telefon und hob den Hörer ab. Die gewählte Nummer hatte er im Kopf. Am anderen Ende der Leitung ertönte das Freizeichen. Castor war es vollkommen gleichgültig, ob er um diese Uhrzeit jemanden aus dem Bett holte. Nachdem das Telefon scheinbar endlos geläutet hatte, wurde endlich abgehoben.
Castor meldete sich nicht einmal mit seinem Namen. Er ging davon aus, dass man seine Stimme erkannte. Der knurrige Ton seines Gesprächspartners nahm sofort einen unterwürfigen Klang an, als erkannte, wer ihn da anrief.
Julius Castor sprach nur eine Minute. Ohne eine Antwort
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