Traumschlange (German Edition)
Seitenstraße bog. Sie konnte sich noch gut an die Fahrt nach St-Marc erinnern, aber in der Dunkelheit sah alles fremd und seltsam verzerrt aus. Zweimal fuhr sie im Kreis, bis sie die Rue du Quai fand, die ihr den Weg am Eisenmarkt vorbei zum Flughafen wies.
Sie folgte der Küstenstrasse nach Norden. Auch hier war kein Verkehr. Niemand kam ihr entgegen.
Links von ihr peitschte der Sturm das Meer auf. Hohe Wellen krachten donnernd gegen die Felsen. Es klang, als hätten sich alle Pauken der Welt zu einem gemeinsamen Konzert entschlossen.
Als die Fahrbahn ab Boucassin geradeaus vor ihr lag, beschleunigte Abby auf einhundert Meilen pro Stunde. Die Räder griffen kaum noch. Abby achtete nicht darauf. In ihrem Kopf war nur noch Platz für einen Gedanken.
Sie musste rechtzeitig bei Jean sein, bevor er im Sarg erstickte.
Plötzlich stotterte der Motor. Abby trat verzweifelt aufs Gaspedal. Mit einem letzten Ächzen erstarb er. Abby legte instinktiv den Leerlauf ein und ließ den Wagen ausrollen.
Als sie schließlich auf dem Seitenstreifen zum Stehen kam, schaltete sie die Innenbeleuchtung an. Ein Blick sagte ihr alles.
Der Tank war leer. Sie hatte kein Benzin mehr.
Jean lag auf der Ladefläche des Lastwagens. Der metallene Boden unter ihm war hart und drückte schmerzhaft auf seine Hüftknochen. Es war kalt. Zwar wurde der LKW durch eine Plane geschützt, aber der Wind drang durch die Ritzen und ließ ihn zittern. Sein Körper erwachte. Jean konnte sich kaum bewegen, aber er spürte, dass ihm Arme und Beine wieder gehorchten. Trotzdem änderte es nichts. Verschnürt wie ein Überseepaket, war er sich seiner Lage vollkommen bewusst. Alles war aus. Abby hatte ihn nicht gefunden. Wahrscheinlich wusste sie noch nichts von seinem Ableben und saß in ihrem Hotelzimmer, darauf wartend, dass er sich meldete. Jean machte sich keine Hoffnung mehr. Seine Entführer würden ihn in den Norden Haitis verschleppen, wo er die restlichen Tage seines Lebens als Sklave fristen würde. Wenn sie dahinter kamen, dass ihr Gift bei ihm nicht richtig wirkte, würden sie ihn umbringen.
Er lauschte den Stimmen seiner Kidnapper, die heftig mit einander stritten. Anscheinend war einer der Vorderreifen fast platt und nun wurde darüber diskutiert, ob man den Reifen wechseln sollte oder nicht. Jean verfolgte den Streit, aber es wurde zunehmend schwerer die Worte zu verstehen. Er konzentrierte sich, aber die Stimmen waren nur noch sinnloses Gebrabbel.
Sie hatten ihm auf dem Friedhof irgendein Zeug eingeflösst und Jean begann die Wirkung des Rauschmittels zu spüren. Seine Augenlider begannen zu flattern. Seine Lippen, über die er erst vor wenigen Minuten die Kontrolle zurückgewonnen hatte, wurden erneut taub. In seiner Brust schlug unruhig sein Herz. Das Blut pochte in seinen Ohren. Mitchard grübelte darüber nach, was mit ihm geschah, aber die Gedanken entglitten ihm immer wieder ab.
Diesmal wurde er nicht ohnmächtig. Dafür vergaß er plötzlich seinen Namen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie er hieß. Alles war weg. Der Ansturm der Droge hatte seinen Verstand leergefegt.
Er lag auf der Ladefläche und dachte darüber nach, wer er war.
Und wie er hierher gekommen war. Aber auch diese Gedanken verschwanden, als der Motor des LKWs gestartet wurde.
Der Sturm zerrte an Abby, peitschte ihr die Haare ins Gesicht, als sie ausstieg, um den Kofferraum zu öffnen. Sie lehnte sich gegen den Wind und stapfte um den Wagen herum. Der Deckel des Kofferraums schnappte auf und im Licht der schwachen Heckbeleuchtung entdeckte Abby neben den zwei Schaufeln einen gefüllten Ersatzkanister. Wie alle Haitianer hatte sich Jean einen Vorrat angelegt, da man nie wusste, ob die wenigen Tankstellen in Port-au-Prince Benzin hatten oder nicht. Die Taxis packten ihre Kofferräume derartig mit Ersatzkanistern voll, dass das Gepäck der Touristen auf den Dachständer geschnallt werden musste. Abby seufzte erleichtert.
Sie hob den Kanister heraus, der eine Tonne zu wiegen schien und schleppte ihn zum Tank. Auf dieser Seite des Wagens war es vollkommen finster. Abby musste den Einfüllstutzen ertasten, um das Benzin einlaufen zu lassen. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis der Tank endlich gefüllt war. Sie warf den leeren Kanister in den Kofferraum und setzte sich hinter das Steuer. Der Motor sprang beim ersten Versuch an. Mit quietschenden Reifen schoss sie auf die Strasse zurück. Eine halbe Stunde später erreichte sie St-Marc.
Abby
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