Traumschlange
vermutet hätte. Während Schlange sie beobachtete, streckte Melissa langsam eine Hand aus und berührte die Oberfläche des dunklen Gewässers. Ihre Fingerspitzen erzeugten auf dem Wasserspiegel Ringe.
Melissa sah fasziniert zu, wie Schlange vorsichtig Dunst und Sand aus der Schachtel ließ. Dunst kroch um Schlanges Füße und prüfte die Gerüche der Oase. Behutsam nahm Schlange sie auf. Die geschmeidigen weißen Schuppen lagen kühl in ihren Händen.
»Ich möchte, daß sie dich riecht«, sagte Schlange. »Ihre instinktive Reaktion besteht daraus, nach allem zu beißen, was sie erschreckt. Deshalb ist es besser, sie kennt deinen Geruch. Verstehst du, was ich meine?«
Melissa nickte langsam, sichtlich voller Furcht. »Sie ist sehr giftig, nicht wahr? Giftiger als die andere?«
»Ja. Sobald wir daheim sind, kann ich dich impfen, aber hier möchte ich das nicht machen. Ich müßte dich erst untersuchen und habe nicht die erforderlichen Dinge dabei.«
»Du meinst, du kannst mir eine Medizin geben, so daß mir nichts geschieht, wenn sie mich beißt?«
»Nicht gerade nichts. Aber mich hat sie schon einige Male irrtümlich gebissen, und ich lebe noch.«
»Ich glaube, es ist wirklich besser, sie lernt mich kennen«, sagte Melissa. Schlange setzte sich neben sie.
»Ich weiß, es fällt schwer, sich vor ihr nicht zu fürchten. Aber versuche ganz locker zu sein, atme tief durch. Schließe die Augen und lausche ganz einfach auf meine Stimme.«
»Pferde merken es auch, wenn man sich fürchtet«, sagte Melissa und tat, wie Schlange ihr empfohlen hatte. Die gegabelte Zunge der Kobra glitt über Melissas Hand; das Kind blieb stumm und reglos sitzen. Schlange erinnerte sich an ihre erste Begegnung mit den Albinokobras: den ersten, fürchterlich erregenden Moment, als ein ganzes Bündel davon, verschlungen und verstrickt zu scheinbar unentwirrbaren Knäueln, ihre Schritte spürte und gleichzeitig die Köpfe hob, um zu zischen, wie ein vielhäuptiges Tier oder eine fremdartige Pflanze in urplötzlicher, lebhafter Blütenentfaltung. Schlange beließ eine Hand an Dunst, während die Kobra über Melissas Arm kroch.
»Sie fühlt sich nett an«, sagte Melissa. Ihre Stimme war zittrig und verriet noch Beunruhigung, aber ihr Tonfall bezeugte Aufrichtigkeit. Klapperschlangen kannte Melissa schon; sie waren eine verbreitete Gefahr und erregten weniger Furcht. Sand glitt über ihre Hände, und sie streichelte ihn behutsam. Schlange war erfreut; die Begabung ihrer Tochter beschränkte sich nicht allein auf Pferde.
»Ich habe sehr gehofft, daß du mit Dunst und Sand gut auskommst«, sagte sie. »So etwas ist wichtig für eine Heilerin.«
Verdutzt blickte Melissa auf.
»Aber du hast doch nicht wirklich...« Sie verstummte.
»Was?«
Melissa atmete tief ein. »Was du dem Bürgermeister gesagt hast«, antwortete sie nach kurzem Zögern. »Darüber, was aus mir werden könnte. Du hast das doch nicht wirklich gemeint. Du hast es gesagt, damit er mich fortläßt.«
»Ich habe alles, was ich zu ihm sagte, ernst gemeint.«
»Aber ich kann doch niemals Heilerin werden.«
»Warum nicht?« Melissa gab keine Antwort, also sprach Schlange weiter. »Ich habe ja bereits erwähnt, daß Heiler ihre Kinder adoptieren, weil sie keine eigenen bekommen können. Ich muß noch etwas hinzufügen. Viele Heiler haben Partner, die anderen Berufen nachgehen. Und nicht alle unsere Adoptivkinder werden Heiler. Wir sind keine geschlossene Gemeinschaft. Aber wenn wir jemanden adoptieren, dann gewöhnlich jemanden, den wir als geeignet dafür erachten.«
»Ich?«
»Ja. Wenn du es möchtest. Das ist am wichtigsten. Du kannst tun, was du möchtest. Du brauchst nicht zu tun, was andere wollen oder von dir erwarten.«
»Ich eine Heilerin...«‚ sagte Melissa. Das ehrfürchtige Staunen in der Stimme ihrer Tochter versah Schlange mit einem weiteren wesentlichen Grund, die Stadtbewohner dahin zu bringen, daß sie ihr zu neuen Traumschlangen verhalfen.
In der zweiten Nacht ritten Schlange und Melissa unermüdlich. Sie kamen an keine Oase, und am Morgen legte Schlange bei Anbruch der Dämmerung keine Rast ein, obwohl es viel zu heiß war zum Weiterreiten. Schweiß durchtränkte sie. Er rann in lauwarmen Perlen ihren Rücken und ihre Seiten hinab. Schweißperlen liefen ihr ins Gesicht und trockneten zu salzigem Gries aus. Winds Fell verfärbte sich dunkel, während an den Beinen der Stute Schweiß hinabströmte; sie dampfte. Bei jedem Schritt flogen
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