Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
Vom Netzwerk:
wieder in einem sarkastischen Tonfall, »welcher Familie sie genau angehören will?«
    »Der Herrscherfamilie.«
    »Einen Moment«, sagte er nachdenklich. Er senkte den Blick, und seine Hände bewegten sich außerhalb von Schlanges Blickfeld; aber als sie nähertrat, konnte sie trotzdem nicht mehr sehen als den Rand des ›Fensters‹, denn es war gar kein Fenster, sondern eine Glasscheibe mit einem beweglichen Abbild. Sie war verblüfft, zeigte es jedoch nicht. Immerhin hatte sie ja gewußt, daß die Stadtbewohner über größere technologische Möglichkeiten als ihre Leute verfügten. Das war einer der Gründe, warum sie sich nun hier befand. Langsam blickte der junge Mann auf, aus Erstaunen eine Braue aufwärts gewölbt.
    »Ich werde jemanden rufen, der mit dir darüber spricht.«
    Das Bild auf der Glasscheibe löste sich in bunte Streifen auf.
    Eine Zeitlang tat sich nichts. Schlange lehnte sich aus der Nische der Toreinfassung und spähte umher.
    »Melissa!«
    Weder das Kind noch die Pferde waren in Sichtweite. Hinter einem lückenhaften Vorhang aus dürren Blütenbäumen konnte Schlange den größten Teil des diesseitigen Ufers erkennen, allerdings war an einigen Stellen genug Grünzeug vorhanden, um zwei Pferde und ein Kind aus dieser Entfernung ihrem Blick zu verbergen.
    »Melissa!« rief Schlange erneut.
    Wieder kam keine Antwort, aber es war möglich, daß der Wind ihre Stimme verwehte. Das Scheinfenster war nun schwarz. Schlange wollte sich gerade entfernen, um nach ihrer Tochter Ausschau zu halten, als es flackrig wieder aufleuchtete.
    »Wo bist du?« rief eine andere Stimme. »Komm zurück!«
    Sprachlos starrte Schlange die Scheibe an, denn diese Person ähnelte Jesse in wirklich erstaunlichem Maße, viel mehr als der junge Mann. Entweder war dies Jesses Zwillingsschwester, oder ihre Familie war hochgradig inzüchtig. Während das Abbild noch einmal nach ihr rief, vergegenwärtigte sich Schlange die vertraute Erkenntnis, daß Inzucht ein bewährtes Mittel war, um erstrebenswerte Eigenschaften zusammenzufassen und zu stabilisieren, falls der Experimentator die Bereitschaft zu einigen unerfreulichen Fehlschlägen unter den Ergebnissen aufbrachte. Auf die unausgesprochene Möglichkeit von unerfreulichen Fehlschlägen unter Menschengeburten war Schlange allerdings nicht vorbereitet.
    »Hallo? Funktioniert das Ding?«
    Die rothaarige Gestalt starrte sie beunruhigt an, und dem Klang ihrer Stimme folgte ein lautes, nachhallendes Kratzgeräusch. Die Stimme... Jesses Stimme war angenehm dunkel gewesen, aber nicht so tief. Schlange erkannte, daß sie es mit einem Mann zu tun hatte, keiner Frau, wie sie aufgrund der Ähnlichkeit zunächst annahm. Dann handelte es sich bestimmt nicht um Jesses Zwilling. Schlange überlegte, ob die Städter womöglich fähig waren, Menschen zu klonen. Falls sie es häufig genug taten, um große Erfahrungen zu besitzen, vielleicht sogar wechselgeschlechtlich klonen konnten, dann wußten sie unter Umständen auch bessere Methoden als die Heiler, um neue Traumschlangen zu erzeugen.
    »Ich höre dich, wenn du das meinst«, sagte Schlange.
    »Gut. Was möchtest du? Richards Miene zufolge muß es sich um eine verdrießliche Angelegenheit handeln.«
    »Wenn du ein unmittelbarer Verwandter der Schürferin Jesse bist«, sagte Schlange, »habe ich für dich eine Nachricht.«
    Die rosa Wangen des Mannes erbleichten augenblicklich.
    »Von Jesse?« Er schüttelte den Kopf, dann gewann er seine Fassung zurück. »Hat sie sich im Laufe der Jahre so stark verändert, oder sehe ich anders als ein direkter Verwandter aus?«
    »Nein«, sagte Schlange. »Du siehst aus wie ein naher Verwandter.«
    »Sie ist meine ältere Schwester«, sagte er. »Und nun, nehme ich an, will sie zurückkommen und sich wieder als die Ältere aufspielen, während ich künftig wieder nichts als der jüngere Bruder sein soll, was?«
    Die Bitterkeit in seiner Stimme wirkte wie eine Entlarvung; Schlange empfand tiefe Bestürzung. Die Kunde von Jesses Tod würde ihrem Bruder keine Trauer verursachen, sondern vielmehr Freude bereiten.
    »Sie kehrt zurück, stimmt‘s?« fragte er noch einmal. »Sie weiß, daß der Rat sie wieder an die Spitze unserer Familie stellen wird. Verfluchtes Weib! Ebensogut könnte ich in den letzten zwanzig Jahren überhaupt nicht existiert haben.«
    Kummer schnürte Schlange die Kehle zu, während sie lauschte. Also hätte ihre Familie sie wieder aufgenommen, sie daheim wieder willkommen geheißen,

Weitere Kostenlose Bücher