Traumschlange
nahm sie die Hand vom geschmeidigen Leder. Heiler starben entweder ziemlich jung oder sie erreichten ein sehr hohes Alter. Der Heiler namens Schlange, der ihr unmittelbar vorausging, war nur dreiundvierzig gewesen, als er starb, aber die beiden anderen hatten jeweils länger als ein Jahrhundert gelebt. Schlange hatte unerhörte Leistungen und gewaltige Errungenschaften aufzuarbeiten, um sich als würdig zu erweisen; und bislang war ihr so gut wie nichts gelungen.
Der Pfad führte zwischen Allzeitbäumen abwärts, an knorrigen braunen Stämmen und düsteren, nadelspitzen Wipfeln vorbei; die Legende behauptete von diesen Bäumen, daß sie niemals Samen erzeugten, niemals stürben. Ihr Harz erfüllte die Luft mit scharfem, kiefernähnlichem Geruch.
»Schlange...?« sagte Melissa.
»Ja?«
»Bist du... bist du meine Mutter?«
Bestürzt zögerte Schlange für einen Moment. Das Völkchen der Heiler unterhielt keine üblichen Familiengruppierungen. Sie selbst hatte nie irgendwen ›Mutter‹ oder ›Vater‹ genannt, obwohl alle älteren Heiler in einem vergleichbaren Verhältnis zu ihr standen. Und Melissas Tonfall war so sehnsüchtig...
»Alle Heiler sind nun deine Familie«, sagte Schlange, »aber ich glaube, da ich dich adoptiert habe, macht mich das wohl zu deiner Mutter.«
»Da bin ich aber froh.«
»Ich freue mich auch.«
Unterhalb des schmalen Streifens urtümlichen Waldes wuchs an den Hängen fast nichts außer Flechten, und obwohl sie sich noch in großer Höhe aufhielten und der Pfad steil war, hätten Schlange und Melissa ebensogut bereits draußen in der Wüste sein können. Unter der Baumgrenze nahmen die Wärme und die Lufttrockenheit ständig zu. Als sie zuletzt den Sand erreichten, machten sie für einen Moment Halt, um sich umzukleiden; Schlange hüllte sich in eine Wüstenrobe von Arevins Klan, Melissa zog Wüstenkleidung an, die Schlange für sie in Berghausen gekauft hatte.
Den ganzen Tag lang sahen sie keinen Menschen. Ab und zu schaute sich Schlange über die Schulter um, und sie blieb auf der Hut, wenn sie durch Dünen ritten, wo jemand sich verbergen konnte, um arglose Reisende zu überfallen. Aber sie entdeckten nicht einmal eine Spur des Verrückten. Schlange begann sich zu fragen, ob die beiden Anschläge vielleicht reine Zufälle gewesen, ihre Erinnerung an sonderbare Geräusche rings um ihren Lagerplatz lediglich einem Traum entsprungen waren. Und wenn der Verrückte wirklich ein Verrückter war, dann war er möglicherweise inzwischen von irgendeinem anderen unwiderstehlichen Anziehungsgegenstand seines Wahns von ihrer Verfolgung abgelenkt worden. Aber sie vermochte sich nicht zu überzeugen.
Am Abend lagen die Berge bereits weit hinter ihnen und bildeten in der Ferne einen schroffen Felswall. Die Hufe der Pferde knirschten im Sand, aber die Stille rundherum war bis auf diese Ausnahme vollkommen, wirkte unirdisch. Als sie durch die Abenddämmerung weiterritten, unterhielten sich Schlange und Melissa.
Dichte Wolken verschleierten den Mond; das ruhige Glühen der Leuchtzellen in Schlanges Laterne, unter diesen Umständen vergleichsweise hell, lieferte für die beiden gerade soviel Licht, daß es ihnen möglich war, den Weg fortzusetzen.
Die Laterne, am Sattel aufgehängt, pendelte mit Winds Schritten. Der schwarze Sand spiegelte den Lichtschein wie Wasser wider. Eichhörnchen und Wind rückten einander näher. Allmählich sprachen Schlange und Melissa immer leiser, und schließlich schwiegen sie ganz. Schlanges Kompaß, der kaum sichtbare Mond, die Windrichtung und die Umrisse der Dünen halfen ihnen bei der Orientierung, doch Schlange konnte die Befürchtung, sich im Kreis zu bewegen, wie sie einen Reisenden in der Wildnis sehr zudringlich befallen kann, nie völlig verdrängen.
Im Sattel nach hinten gedreht, beobachtete Schlange mehrere Minuten lang die Richtung, aus der sie kamen, aber sie sah kein anderes Licht folgen. Sie waren allein; ringsum gab es weit und breit nichts als Dunkelheit. Sie setzte sich wieder im Sattel zurecht.
»Hier ist es unheimlich«, flüsterte Melissa.
»Ich weiß. Es wäre mir lieber, wir könnten am hellichten Tag reiten.«
»Vielleicht regnet es.«
»Das wäre fein.«
In der Wüste fiel nur alle paar Jahre einmal Regen, aber wenn, dann gewöhnlich kurz vor dem Beginn des Winters. Dann schossen die heimischen Samen zu überstürztem Wuchs und eiliger Vermehrung empor, und der körnige Wüstensand trug Grün und allerlei Farbtupfer. Innerhalb von
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