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Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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Tröpfchen von ihren Fesseln.
    »Herrin...«
    Die förmliche Anrede verblüffte Schlange, und sie blickte Melissa besorgt an.
    »Was ist, Melissa?«
    »Wie weit wollen wir noch reiten, bis wir eine Rast machen?«
    »Ich weiß es nicht. Wir müssen weiter, solange es nur geht.« Sie deutete zum Himmel, wo die Wolken tief und bedrohlich hingen. »So sieht es meistens vor einem Sturm aus.«
    »Das weiß ich. Aber wir können nicht viel länger weiterreiten. Eichhörnchen und Wind müssen rasten. Du hast gesagt, die Stadt liegt mitten in der Wüste. Na, und wenn wir einmal dort sind, dann müssen wir irgendwann auch wieder zurück
    – und die Pferde sollen uns ja auch auf dem Rückweg tragen.« Schlange ließ sich wieder im Sattel zusammensinken. »Wir müssen weiter. Es ist zu gefährlich, hier zu rasten.«
    »Schlange... Schlange, du weißt über Menschen und Stürme und Heilerei und Wüsten und Städte Bescheid, und ich nicht. Aber ich kenne mich mit Pferden aus. Wenn wir jetzt rasten und sie ein paar Stunden verschnaufen lassen, werden sie uns auch heute abend noch weit tragen können. Wenn nicht, werden wir sie bei Anbruch der Dunkelheit liegen lassen müssen.«
    »Nun gut«, sagte Schlange schließlich. »Wir rasten, sobald wir bei den Felsen dort hinten ankommen. Da finden wir wenigstens etwas Schatten.«
    Daheim in der Niederlassung der Heiler dachte Schlange normalerweise monatelang kein einziges Mal an die Stadt. In der Wüste und in den Bergen jedoch, wo die Karawanen überwinterten, drehte sich das ganze Leben um sie. Aber als in der Morgendämmerung nach der dritten Nacht der hohe, stumpfkegelige Berg vor ihnen auftauchte, der das Zentrum schützte, begann auch Schlange allmählich den Eindruck zu verspüren, daß auch ihr Leben von der Stadt abhing. Die Sonne ging unmittelbar dahinter auf und tauchte das Zentrum wie ein Götzenbild in Blutrot. Die Pferde hoben die Köpfe, als sie Wasser rochen und ein Ende des langen Weges ahnten, und beschleunigten ihren müden Schritt. Während die Sonne in die Höhe stieg, zogen dichte Wolken auf und zerstreuten ihr Licht zu einem verwaschenen roten Schleier, der den ganzen Horizont verhing.
    Schlanges Knie schmerzte bei jedem von Winds Schritten, doch es bedurfte nicht der Vorwarnung geschwollener Gelenke, um zu erkennen, daß sich ein Sturm näherte. Schlange ballte die Hände um die Zügel zu Fäusten, bis das Leder schmerzhaft in ihre Handflächen schnitt, dann lockerte sie wieder ihre Hände und streichelte den schweißnassen Hals ihrer Stute. Sie bezweifelte nicht, daß Wind die Knochen genauso wehtaten wie ihr.
    Sie ritten auf den Berg zu. Die Blütenbäume waren braun und verwittert, trostlose Holzgestänge, die rings um verlassenen Feuergruben und dunklen Tümpeln raschelten. Zwischen den ausgedörrten Blättern und über dem Sand flüsterte der Wind, wehte erst aus einer, dann aus anderer Richtung, wie Winde es im Bereich vereinzelter Berge tun. Der Schatten, den die Stadt im Sonnenaufgang warf, verdüsterte die Bäume.
    »Sie ist viel größer, als ich dachte«, sagte Melissa mit ruhiger Stimme. »Ich hatte ein Versteck, in dem ich oft Leute belauschen konnte, aber ich habe immer geglaubt, daß sie sich bloß erfundene Geschichten erzählten.«
    »Ich glaube fast, mir ging es genauso«, sagte Schlange. Ihre eigene Stimme besaß einen fernen, selbstvergessenen Klang. Auf ihrer Stirn brach kalter Schweiß aus, als sie sich den gewaltigen Felsenklippen näherten, und trotz der Hitze waren ihre Hände klamm. Die erschöpfte Stute trug sie vorwärts. Als die Stadt im Laufe von Schlanges bisherigem Leben eine wichtige Rolle spielte, war sie sieben und dann siebzehn Jahre alt gewesen; in jedem dieser Jahre hatte ein älterer Heiler den langen, anstrengenden Weg zum Zentrum angetreten, in jedem dieser Jahre hatte ein neues Jahrzehnt begonnen, und die Heiler boten den Stadtbewohnern erneut den Austausch von Wissen und gegenseitige Unterstützung an. Immer war ihr Vorschlag zurückgewiesen worden. Vielleicht kam es auch diesmal nicht anders, trotz der Botschaft, die Schlange brachte.
    »Schlange?«
    Schlange fuhr auf und schaute hinüber zu Melissa. »Was?«
    »Geht‘s dir gut? Du hast so geistesabwesend dreingeschaut, und auch... ich weiß nicht, wie...«
    »›Ängstlich‹ dürfte wohl das treffende Wort sein, glaube ich«, sagte Schlange.
    »Man wird uns schon hineinlassen.«
    Mit jeder Minute schienen die Wolken geballter und schwerer zu werden.
    »Ich hoffe

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