Traumschlange
es«, sagte Schlange.
Der großflächige, dunkle Teich am Fuß des Berges, der dem Zentrum als Sitz diente, besaß weder einen Zufluß noch einen Abfluß. Das Wasser speiste ihn unsichtbar aus der Tiefe und versickerte ebenso unsichtbar im Sand. Die Blütenbäume waren verdorrt, aber das Unterholz aus Gras und niedrigen Sträuchern gedieh vergleichsweise üppig. Auf den zertrampelten Flächen aufgegebener Lagerplätze und den Pfaden dazwischen wuchs bereits junges Gras nach, nicht jedoch auf der breiten Straße zum Stadttor. Schlange brachte es nicht übers Herz, Wind an dem Gewässer vorbeigehen zu lassen. Am Ufer reichte sie die Zügel Melissa.
»Komm nach, sobald sie gesoffen haben. Ich gehe nicht ohne dich hinein, also beunruhige dich nicht. Aber wenn der Wind stärker weht, beeile dich. Alles klar?«
Melissa nickte. »Ein Sturm wird ja nicht so ganz plötzlich ausbrechen, oder?«
»Leider doch«, erwiderte Schlange.
Hastig trank sie und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Sie tupfte sich die Wassertropfen mit einem Zipfel ihres Kopftuchs ab, während sie dem Verlauf der öden Straße folgte. Irgendwo nicht allzu tief unter dem schwarzen Sand lag eine ebene,unnachgiebige Fläche. Eine uralte Straße? Sie hatte schon andernorts Überreste der alten Straßen gesehen, verfallenes Fleisch aus Beton, und dort, wo sich noch keine Sammler umgetan hatten, sogar verrostete stählerne Gebeine.
Vor dem Tor des Zentrums blieb Schlange stehen. Es war fünfmal so hoch wie sie. Zahllose Sandstürme hatten das Metall abgeschmirgelt und ihm eine glatte, glänzende Beschaffenheit verliehen. Aber es gab keinen Knauf, keinen Glockenstrang, keinen Türklopfer, keine Vorrichtung, um jemanden herbeizurufen, der sie einlassen konnte. Sie trat vor, hob eine Faust und hieb sie gegen das Metall. Das kräftige Klopfen hallte kein bißchen. Das Tor mußte sehr dick sein. Sie hämmerte noch einige Male dagegen. Als ihre Augen sich an die Düsternis in der Nische des zurückversetzten Tors gewöhnt hatten, sah sie, daß die Außenfläche wahrhaftig konkav war, von der Wut der Stürme merklich ausgehöhlt. Ihre Hand schmerzte, und sie trat für einen Moment zurück.
»Das war höchste Zeit, daß du mit dem Lärm aufhörst.«
Beim Klang der Stimme fuhr Schlange zusammen und drehte sich um, aber niemand war zu sehen. Statt dessen verschwand in der Seite der Toreinfassung eine Blende knackend in den Fels, und gab den Blick auf ein Fenster frei. Ein blaßhäutiger Mann mit buschigem roten Haar starrte sie an.
»Was soll das bedeuten, daß du gegen das Tor donnerst, wenn wir schon geschlossen haben?«
»Ich möchte hinein«, antwortete Schlange.
»Du bist keine Stadtbewohnerin.«
»Das stimmt. Mein Name ist Schlange. Ich bin Heilerin.«
Er antwortete nicht, indem er seinen Namen nannte – wie es die Höflichkeit dort vorschrieb, wo Schlange aufgewachsen war – doch fiel ihr das weniger auf, denn allmählich gewöhnte sie sich an die Unterschiede, die an einem Ort zur Unhöflichkeit machten, was anderswo als Höflichkeit galt. Aber als er den Kopf zurückwarf und lachte, war sie überrascht. Sie runzelte die Stirn und wartete, bis er zu lachen aufhörte.
»Also habt ihr‘s jetzt aufgegeben, alte Besen zu schicken, was? Jetzt kommen junge Geißen, wie?« Er lachte erneut. »Aber man hätte wenigstens ein hübscheres Exemplar aussuchen können.«
Aus seinem Ton folgerte Schlange, daß er sie zu beleidigen beabsichtigt hatte. Sie zuckte mit den Schultern.
»Öffne das Tor.«
Sein Gelächter verstummte. »Wir lassen keine Fremden herein.«
»Ich bringe eine Nachricht einer Bekannten an ihre Familie. Ich möchte sie ausrichten.«
Er antwortete nicht sofort, sondern senkte für einen Moment den Blick.
»Alle Leute, die in diesem Jahr die Stadt verließen, sind inzwischen zurück.«
»Sie war schon vor langer Zeit fortgegangen.«
»Du weißt wenig über diese Stadt, wenn du erwartest, daß ich nun herumlaufe und nach der Familie irgendeiner Wahnsinnigen frage.«
»Ich weiß überhaupt nichts über eure Stadt. Aber deinem Aussehen zufolge bist du mit meiner Bekannten verwandt.«
»Was soll das bedeuten?« Erstmals war er stutzig geworden.
»Sie sagte mir, ihre Familie sei verwandt mit den Torwächtern. Und ich kann sehen, daß es stimmt – das Haar, die Stirn... nur die Augen sind anders. Ihre waren braun.«
Dieser Städter besaß hellgrüne Augen.
»Hat sie zufällig erwähnt«, fragte der junge Mann und versuchte sich
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