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Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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Schlange, die lautlos davonkroch. Sie streckte den Arm in eine andere Richtung, diesmal in erhöhter Bereitschaft, und packte die nächste Schlange, mit der sie in Berührung kam. Sie spürte zwei winzige Stiche. Sie lächelte und hielt die Traumschlange sanft hinter dem Kopf, minderte rein gewohnheitsmäßig den Giftverlust. Sie hob das Tier nahe genug vor das Gesicht, um es betrachten zu können. Es war wild, nicht zahm und sanftmütig, wie Gras gewesen war, es wand sich und umschlang ihre Hand; die zierliche dreigespaltene Zunge zuckte ihr entgegen, um ihren Geruch wahrzunehmen. Aber es zischte nicht, so wie Gras niemals gezischt hatte. Während ihre Augen sich nach und nach auf die Dunkelheit einstellten, vermochte Schlange allmählich den Rest der Spalte zu erkennen, und sie sah all die Traumschlangen, Exemplare in allen Größen, einzelne Traumschlangen, Knäuel von ihnen, Haufen davon, mehr, als sie je in ihrem Leben gesehen hatte, mehr, als die Heiler in ihrer Niederlassung zusammentragen könnten, wenn alle zur gleichen Zeit mit ihren Traumschlangen heimkämen. Die Traumschlange, die sie hielt, beruhigte sich in der spärlichen Wärme ihrer Hände.
    Aus den Einstichen, die ihr Biß hinterlassen hatte, war jeweils ein Tröpfchen Blut getreten, aber das Brennen des Gifts war nur für einen Augenblick spürbar gewesen. Schlange kauerte sich auf die Fersen und streichelte den Kopf der Traumschlange. Erneut begann sie zu lachen. Sie wußte, daß es galt, sich zusammenzureißen – dies war mehr Hysterie als Erheiterung. Aber auf jeden Fall war sie gegenwärtig zum Lachen imstande.
    »Lache nur, Heilerin.« Norths Stimme hallte dumpf. »Wir werden sehen, wer zuletzt lacht.«
    »Du bist ein Dummkopf«, rief sie in diebischem Vergnügen hinauf, rings umgeben von Traumschlangen, eine Traumschlange in der Hand. Sie lachte darüber, wie North ihr damit, was er als Strafe auffaßte, eine große Freude bereitet hatte, die der Erfüllung eines Kindertraums gleichkam. Sie lachte, bis ihr Tränen über die Wangen liefen, aber für einen Moment weinte sie tatsächlich. Ihr war klar, daß sich North etwas anderes ausdenken würde, sobald er bemerkte, daß er ihr auf diese Weise nichts antat. Sie schniefte, hustete und wischte sich das Gesicht mit dem Saum ihres Kleides; wenigstens hatte sie nun ein wenig Zeit gewonnen.
    Und dann sah sie Melissa. Ihre Tochter lag zusammengekrümmt auf zertrümmertem Gestein im schmalen Ende der Felskluft. Vorsichtig begab sich Schlange an ihre Seite, sorgsam darauf bedacht, keine der Schlangen zu verletzen, an denen sie vorüber mußte, und nicht jene zu erschrecken, die sich um Melissas Arme gewunden hatten oder sich in Garben an ihren Körper schmiegten. Einige ragten aus Melissas rotem Haar wie grüne Fühler. Schlange kniete sich neben Melissa und pflückte die wilden Schlangen von ihrem hingesunkenen Körper wie unreife Früchte. Norths Leute hatten Melissa die Wüstenrobe ausgezogen und ihre Hose in Kniehöhe abgeschnitten. Ihre Arme waren bloß, die Stiefel fort wie auch Schlanges Stiefel. Ihre Hände und Füße waren mit Stricken gefesselt, und wundgescheuerte Haut zeugte von ihrem Kampf gegen die Fesseln. Ihre Arme und Beine waren mit kleinen blutigen Bißwunden übersät. Eine Traumschlange biß zu: Ihre Zähne bohrten sich in Schlanges Fleisch, und das Geschöpf entwich in die Dunkelheit, noch bevor Schlange sie richtig zu sehen bekam. Schlange knirschte mit den Zähnen, als sie sich an die Äußerung des Verrückten erinnerte: »Am besten ist es, wenn sie an allen Stellen zugleich beißen...« Mit dem eigenen Körper schirmte Schlange die Traumschlangen von Melissa ab, löste ihre Fesseln und zerrte mit der Linken an den Knoten. Melissas Haut war kühl und trocken.
    Schlange bettete das Mädchen in ihren linken Arm, während über ihre Füße und Knöchel Traumschlangen glitten. Wieder wunderte sie sich, daß die Tiere in dieser Kälte leben konnten. Sie hätte es nie gewagt, Gras in dieser Temperatur freizulassen. Selbst in der Schachtel wäre es für ihn zu kalt gewesen; sie hätte ihn herausgeholt, ihn zwischen ihren Händen gewärmt, es ihm gestattet, sich um ihren Hals zulegen. Melissas Hände ruhten schlaff auf dem Geröll. Wo ihre Arme über das Gestein gerutscht und mit ihrer Kleidung in Berührung geraten waren, verliefen Streifen von Blut. Es gelang Schlange, Melissa auf ihren Schoß zu heben, weg vom kalten Felsboden. Melissas Puls schlug langsam und schwerfällig, sie

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