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Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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atmete tief. Aber zwischen zwei Atemzügen verstrich jeweils ein so ausgedehnter Moment, daß Schlange befürchtete, sie könne jederzeit ganz zu atmen aufhören. Die Kälte begann Schlange von neuem zu durchdringen, betäubte den Schmerz in ihrer Schulter, kostete sie Kräfte. Bleib wach, dachte sie. Bleib wach.
    Melissas Atem könnte zum Stillstand kommen, ihr Herz stehenbleiben von so viel Gift, und dann bedürfte sie deiner Hilfe. Doch gegen ihren Willen verschwamm Schlanges Blickfeld, ihre Lider sanken herab; jedesmal, wenn sie eingenickt war, fuhr sie mit einem Ruck wieder auf. Ein beruhigender Gedanke stahl sich in ihr Bewußtsein: Niemand stirbt an Traumschlangengift. Man überlebt es, oder man stirbt friedlich an seinem Leiden, wenn der Zeitpunkt da ist. Du darfst ruhig schlafen, sie wird nicht sterben. Aber Schlange hatte noch nie erlebt, daß jemand eine so starke Dosis vom Traumschlangengift erhalten hatte, und Melissa war zudem ein Kind.
    Eine winzige Traumschlange kroch zwischen Schlanges Bein und der Felswand dahin. Schlange griff mit ihrer tauben Rechten zu und nahm sie verwundert in Augenschein. Sie lag zusammengerollt in ihrer Handfläche, starrte sie mit lidlosen Augen an, tastete mit der dreigespaltenen Zunge in der Luft. Irgend etwas an ihr war ungewöhnlich; Schlange musterte sie ausführlicher. Es war ein Jungtier, gerade erst ausgeschlüpft, denn es besaß noch die Tülle hornigen Gewebes, wie man sie bei den Schlüpflingen vieler Schlangenarten sehen konnte. Dies war ein endgültiger Beweis dafür, wie North an seine Traumschlangen gelangte. Er erhielt keine Lieferungen von den Fremdweltlern. Er klonte sie nicht. Er verfügte über einen Bestand von Traumschlangen, die sich vermehrten. In dieser Schlangengrube befanden sich Exemplare jeden Alters und aller Größen, von Schlüpflingen bis zu ausgewachsenen Tieren, die größer als jede Traumschlange waren, welche Schlange bisher gesehen hatte. Sie wandte sich um und wollte das Jungtier hinter sich absetzen, aber ihre Hand stieß gegen den Fels. Erschrocken biß das Tierchen zu. Die feinen Stiche der winzigen Giftzähne ließen Schlange zusammenfahren. Das Geschöpf entglitt ihrer Hand und verschwand in den Schatten.
    »North!«
    Schlanges Stimme klang heiser. Sie räusperte sich und versuchte es noch einmal. Diesmal erschien der Umriß seiner Gestalt am Rand der Spalte. An seinem wohlgelaunten Lächeln sah Schlange, daß er erwartete, sie werde ihn um Freilassung anflehen. Er schaute herab und bemerkte, daß sie sich zwischen Melissa und die Traumschlangen gelagert hatte.
    »Sie könnte frei sein, hättest du sie sich selbst überlassen«, sagte er. »Nun vorenthalte ihr nicht auch noch meine Tiere.«
    »Hier sind deine Tiere auf verschwenderische Weise fehl am Platze, North«, sagte Schlange. »Du solltest sie der Welt zur Verfügung stellen. Jeder wüßte das zu schätzen, vor allem die Heiler.«
    »Man schätzt mich hier«, erwiderte North.
    »Aber dies muß ein ungemütliches Leben sein. Du könntest mit allen Bequemlichkeiten und sorgenfrei...«
    »Für mich gibt es keine Bequemlichkeit«, sagte North. »Gerade dir müßte das doch klar sein. Ob ich auf dem Boden schlafe oder in einem Federbett, für mich ist es das gleiche.«
    »Du hast Traumschlangen zum Brüten gebracht«, sagte Schlange. Sie sah Melissa an. Mehrere Schlangen waren an ihr vorbeigekrochen. Sie erwischte eine davon, bevor sie den nackten Arm ihrer Tochter erreichte. Die Schlange biß. Sie beförderte sie und die anderen aus Melissas Bereich, ohne auf ihre Zähne und das Brennen in ihren Händen zu achten.
    »Wie du das auch schaffst, du solltest deine Kenntnisse anderen zugänglich machen.«
    »Und was soll dabei deine Rolle sein? Willst du meine Heroldin werden? Möchtest du vor mir in jeden neuen Ort tanzen und ausrufen, daß ich komme?«
    »Genauso gerne möchte ich hier unten sterben.«
    North lachte heiser auf.
    »Du würdest so vielen Menschen helfen. Als du einen Heiler brauchtest, war keiner zur Stelle, weil wir zuwenig Traumschlangen haben. Du könntest Menschen wie dir helfen.«
    »Ich helfe den Menschen, die zu mir kommen«, antwortete North. »Das sind die Menschen, die wie ich sind. Sie sind die einzigen Menschen, die ich um mich zu haben wünsche.« Er wandte sich ab.
    »North!«
    »Was?«
    »Gib mir wenigstens eine Decke für Melissa. Sie wird sterben, wenn ich sie nicht warmhalten kann.«
    »Sie wird nicht sterben«, entgegnete North. »Nicht, wenn du

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